Editorial

Mehr als eine gute Partnerschaft - KI und Biotech (I)

Carolin Sage, Laborjournal 04/2024


(24.04.2024) Künstliche Intelligenz (KI) hat in der Biotech-Branche Einzug gehalten. Insbesondere bei der Entwicklung von Wirkstoffen setzen immer mehr Unternehmen auf KI-Unterstützung.

„Erst gestalten wir unsere Werkzeuge, dann gestalten sie uns“, soll der US-amerikanische Schriftsteller John Culkin einst gesagt haben. Was schwer nach Science Fiction klingt, ist heute schon gewollte Realität. Jedenfalls ein Stück weit. Denn mithilfe von künstlicher Intelligenz können die Nukleotid-Sequenzen maßgeschneiderter Proteine mit gewünschten Eigenschaften und Funktionen berechnet werden. Gerichtete Evolution war gestern, heute erledigt das alles eine KI und gestaltet dadurch die Biotechnologie der Zukunft mit.

Chance oder Risiko?

Welche Vorteile ergeben sich daraus? Wird sich die Arbeit in den Laboren verändern? Ist KI eine Chance oder eher ein Risiko? Diese Fragen hat der Laborprodukte-Anbieter Starlab rund 350 Unternehmen aus der Life-Sciences-Branche gestellt und daraus ein Stimmungsbarometer mit eindeutigen Tendenzen angefertigt. Die Mehrheit der Befragten sieht KI als relevante Technologie, die in den nächsten Jahren die Arbeit in den Laboren maßgeblich verändern wird. Besonders zutreffend finden das die Befragten aus den Forschungs- und Entwicklungsabteilungen. Über achtzig Prozent denken, dass KI ihre Arbeit effizienter macht, und auch beim Punkt Kostenersparnis gibt es hohe Zustimmung. Nur rund die Hälfte der Befragten glaubt allerdings, dass KI dabei hilft, komplexe Probleme in der Forschung zu lösen. Das erstaunt, denn eine Vielzahl der Technologien wurde genau dafür entwickelt. KI hilft etwa bei der Suche nach neuen Wirkstoffen, analysiert Genome oder liefert Beiträge zur Erforschung von seltenen Erkrankungen.

Zeichnung: Roboter arbeitet in einem futuristischen Hightech-Labor
Illustration KI-kreiert mit DeepAI

Editorial

Etwa zwei Drittel der Teilnehmenden der Starlab-Befragung ordnen KI als Chance ein. Trotzdem bestehen Ängste, dass die juristischen Regelungen nicht ausreichend sein könnten und es beim Datenschutz und der Transparenz mangelt. Dass gerade in Deutschland Skepsis gegenüber KI herrscht, weiß auch Ingmar Schuster, CEO beim Berliner Start-up Exazyme, das sich auf KI-gestützte Enzymoptimierung spezialisiert hat. „Das Vertrauen gegenüber KI in der Biotech-Branche könnte durchaus größer sein“, so Schuster. „KI wird häufig als Blackbox gesehen, weshalb viele Leute große Skepsis haben.“ Bei Exazyme versuche man den Kunden durch einen transparenten Ansatz sowohl in der Kommunikation als auch im Design der KI-Modelle diese Skepsis zu nehmen und zu erklären, was wie wo passiert und wie die Ergebnisse zu erklären sind.

Intelligente Datenbank

Der Nutzen, den KI für die Life-Sciences-Branche bringen kann, ist unbestreitbar, denn überall fallen große Datenmengen an, die irgendwie organisiert werden müssen. Beim Pharmakonzern Abbvie beispielsweise erstellt eine KI eine Literaturdatenbank, die es ermöglicht, weit über die Keyword-Liste hinaus, Zusammenhänge zwischen Forschungsergebnissen zu finden. Das spart Zeit und liefert den Wissenschaftlern und Wissenschaftlerinnen Informationen, die sie möglicherweise in den klassischen Literaturdatenbanken nicht gefunden hätten. Auch Qiagen gab kürzlich die Markteinführung einer KI-basierten Wissensdatenbank bekannt. In der Presseerklärung heißt es dazu: „Die Datenbank identifiziert und extrahiert Kausalzusammenhänge zwischen Genen, Krankheiten, Medikamenten und anderen biologischen Einheiten mithilfe von KI. Sie generiert über 640 Millionen biomedizinische Beziehungen aus Literatur, Patenten, Forschungsprojekten und anderen Quellen.“

Nicht nur in der bildgestützten Diagnostik, wie beispielsweise der MRT, kann KI die Diagnosestellung erleichtern. Auch in der molekularen Diagnostik kann sie verwendet werden, um Daten auszuwerten. So nutzt das Gendiagnostik-Unternehmen Centogene schon seit 2019 KI zu Diagnosezwecken. Dabei kommt Centogene die firmeneigene Datenbank mit genetischen Informationen – nach eigenen Angaben weltweit die umfangreichste ihrer Art – zugute. Der KI gelingt es deutlich schneller und effizienter als mit herkömmlichen Methoden, aus diesen Daten klinisch relevante Genvariationen zu identifizieren. Dabei bleibt es nicht nur bei einem Datenabgleich, die Ergebnisse ermöglichen auch die Interpretation unbekannter Varianten, die von Bedeutung für pathologische Zusammenhänge sein könnten.

Smarte Helfer bei der Wirkstoff-Entwicklung

Neue oder bessere Wirkstoffe zu entwickeln, ist eine zentrale Aufgabenstellung, der sich die moderne Biotechnologie widmet. Erste KI-unterstützte Erfolge konnten Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen dabei schon vor einigen Jahren verzeichnen. 2020 berichtete ein US-amerikanisch-kanadisches Forschungsteam vom Wirkstoff Halicin, den es durch KI-basierte Methoden gefunden hatte (Cell, 180(4): 702.e13). Halicin ist ein Antibiotikum, das über einen bislang unbekannten Mechanismus Bakterien am Wachstum hindert: Es verhindert, dass der pH-Gradient über die Zellmembran aufrechterhalten wird und stört so den Stoffwechsel der Bakterien. Das Forschungsteam hatte aber nicht speziell nach einem neuen Antibiotikum gesucht. Es trainierte seine neuronalen Netzwerke mit über zweitausend antimikrobiell wirkenden Substanzen und ließ die KI dann auf eine Datenbank mit über Hundert Millionen Molekülen los, die bereits als Wirkstoffe bei anderen Krankheiten bekannt waren. Diese lieferte 99 Zielsubstanzen, darunter auch Halicin, von denen über die Hälfte auch in ersten Wirksamkeitstests erfolgreich waren. Ob KI tatsächlich ein Licht am Ende des Resistenztunnels aufleuchten lässt, wird allerdings erst die weitere Forschung an den Wirkstoffkandidaten zeigen.

Neben Antibiotika sind proteinbasierte Wirkstoffe eine Substanzklasse, bei der KI sich als äußerst hilfreich erweisen kann. AlphaFold und Co. bilden den Auftakt in eine neue Ära des Proteindesigns: Erstmals kann die 3-D-Struktur von Eiweißmolekülen korrekt vorhergesagt werden. 2019 wurde das noch als der heilige Gral der Molekularbiologie bezeichnet.

Heute ist sogar noch mehr drin: Das Berliner Start-up Exazyme hat eine Methode entwickelt, auch die Funktionen und Eigenschaften von Proteinen vorherzusagen (ACS Synth Biol, 12(12):3521-30). Das ist auf dem Markt gefragt. „Kunden wenden sich an uns, wenn sie Enzyme, Peptide oder Peptidhormone verbessern wollen. Auch Antikörper oder Transkriptions- oder Wachstumsfaktoren können wir optimieren“, sagt Ingmar Schuster, Mitgründer von Exazyme. Die Fragestellung, wonach optimiert wird, könne ganz unterschiedlich sein, erklärt Schuster, neben Stabilität auch Aktivität, Selektivität, Bindungsaffinität oder Löslichkeit.

Proteindesign: ein Festessen für KI-Entwickler

Pharma- und Biotech-Firmen kaufen solche Proteindesign-KI-Tools oft teuer ein. BioNTech ließ sich im Juli 2023 die Übernahme das KI-Unternehmens InstaDeep fast 550 Millionen US-Dollar kosten. Schon Jahre zuvor hatten die beiden Unternehmen zusammengearbeitet und 2020 ein AI Innovation Lab gegründet. Von Interesse für BioNTech ist vor allem InstaDeeps Software DeepChain. Sie ermöglicht es, Proteinsequenzen mit KI-Sprachmodellen zu erkunden, die auf Milliarden von Aminosäuren trainiert wurden. Novartis und Ely Lilly nutzen AlphaFold zum Proteindesign. Für eine Kooperation mit Isomorphic Labs, einem Tochterunternehmen von DeepMind, das wiederum dem Google-Mutterkonzern Alphabet angehört, schlossen Novartis und Ely Lilly vor einigen Monaten Verträge in Höhe von rund drei Milliarden US-Dollar ab.

Der Biopharmazeutika-Hersteller Amgen nutzt bei der Entwicklung neuer Proteinwirkstoffe ebenfalls KI. Das Unternehmen gibt an, dass die Entwicklungszeiten neuer Arzneimittel mithilfe von KI heute um sechzig Prozent kürzer sind als noch vor fünf Jahren. Zudem scheint maschinelles Lernen auch äußerst effizient zu sein, denn laut Amgen schaffen es über neunzig Prozent der durch KI identifizierten Kandidaten in die klinische Phase.

Mit Start-ups zu Speziallösungen

Für die medizinische Biotechnologie gibt es neben den großen Themen „Target Identification“ und „Proteindesign“ noch unzählige kleinere, in denen sich KI-Entwickler austoben können. Solche Speziallösungen werden oft von Start-ups wie Tcelltech entwickelt, eine Ausgründung des Deutschen Krebsforschungszentrums. Tcelltech hat ein KI-Modell kreiert, das mit hoher Genauigkeit und in kürzester Zeit geeignete T-Zellen für die zelluläre Immuntherapie identifizieren kann. Der Algorithmus arbeitet mit Daten aus verschiedenen Sequenzierungstechnologien und funktioniert bei vielen verschiedenen Tumorarten.

Das Freiburger Start-up LABmaiTE bietet KI-Lösungen speziell für die Krebsforschung an. Konkret unterstützt es Forschungsteams mit Bildanalysen in der Mikroskopie und versucht, die Zellklassifizierung in der Brustkrebsforschung zu automatisieren.

Sorgfältig abwägen und sinnvoll abstecken

Praktische Hilfe im Labor bietet bAhead mit dem Laborroboter Buddy, der durch KI gewissermaßen das Sehen gelernt hat (wir berichteten in LJ 12/2023 - Link). Er wurde so trainiert, dass er Mikrotiterplatten erkennen kann, ohne dass diese eine spezielle Markierung tragen. Das bringt dem Cobot mehr Flexibilität. Er kann sogar erkennen, ob die Wells ordnungsgemäß gefüllt sind und entsprechend reagieren.

Fassen wir zusammen: Auf dem Weg zum Therapeutikum gibt es eigentlich keinen Schritt, bei dem KI Forschern und Forscherinnen nicht schon helfend zur Seite steht. Sie wertet Literaturdaten aus und hilft beim Verständnis von Krankheiten, sie identifiziert Angriffspunkte für Arzneimittel und schlägt unter Umständen sogar selbst welche vor. Sie zeigt die beste Syntheseroute auf und berechnet pharmakokinetische und pharmakodynamische Parameter. Schließlich organisiert sie auch noch das Datenmanagement während der klinischen Phasen und analysiert das Studiendesign auf Fehleranfälligkeit.

Neben all den Lobpreisungen und Versprechungen rund um KI, maschinellem Lernen und Deep Learning gilt es aber auch die Rahmenbedingungen sinnvoll abzustecken. Es gilt sorgfältig abzuwägen, zwischen den vielen neuen Möglichkeiten, welche Zeitersparnis und Effizienz bringen und das Handling komplexer und enorm umfangreicher Daten erlauben, und der Datensicherheit und Transparenz. Ingmar Schuster von Exazyme findet deutliche Worte: „Die strengen KI-Regeln in der EU wären in Ordnung, wenn man auf der anderen Seite bessere Marktbedingungen schaffen würde. Andere Länder, vor allem die USA, China und der Mittlere Osten, investieren mehr und haben größere Märkte.“ Schuster findet, gerade bei den einheitlichen Marktbedingungen in der EU müsse die Politik ein klares Zeichen setzen.