Editorial

Corona mischt die Namen durch

Publikationsanalyse 2013-2022: Virusforschung
von Mario Rembold, Laborjournal 3/2024


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Sammelbild verschiedenergezeichneter Virusformen
Illustr.: Caltech / LJ

(10.11.2023) Die meistzitierten Paper zur Virusforschung sind dominiert von SARS-CoV-2. Unter den meistzitierten „Köpfen“ gibt es aber auch Hepatitisforscher und HIV-Experten.

Während man die Grenzen zwischen den Ländern dicht machte, brachen vor vier Jahren die Grenzen zwischen den wissenschaftlichen Disziplinen schlagartig in sich zusammen: Jeder Erkenntnisgewinn zum damals neuartigen Coronavirus SARS-CoV-2 war willkommen und konnte Leben retten. So etwa die scheinbar banale Erkenntnis, dass schwer erkrankte Patienten häufig profitieren, wenn man ihre Immunreaktion mit Dexamethason abbremst. Klinisch gefragt waren die Intensivmedizinerinnen und Anästhesisten, in der Grundlagenforschung brachten sich Immunologinnen, Epidemiologen, Mathematikerinnen mit Modelliererfahrung und sogar Physiker etwa beim Erforschen von Aerosol-Strömungen ein.

Wenig überraschend drückt die Corona-Pandemie daher auch unserer aktuellen Publikationsanalyse zur Virusforschung ihren Stempel auf.

Mehr als 245.000 Originalartikel mit COVID-19-relevanten Schlagworten in der Überschrift sind zum Laborjournal-Redaktionsschluss weltweit erschienen. Für unsere Tabelle mit den meistzitierten Publikationen interessieren uns indes nur jene Arbeiten, bei denen mindestens ein Autor eine Adresse im deutschsprachigen Laborjournal-Verbreitungsgebiet angibt – und im Fokus sollen virologische Fragen stehen. Ausgeklammert haben wir daher klinische Studien zu antiviralen Therapien ebenso wie Untersuchungen zur Wirksamkeit der verschiedenen Corona-Vakzine. Natürlich bauen all diese Arbeiten auf Erkenntnissen rund um ein Virus auf, aber diese stammen ja aus anderen Forschungsprojekten und sind Voraussetzung dafür, dass klinische Studien überhaupt stattfinden.

Wer hingegen an den meistzitierten Veröffentlichungen mit SARS-CoV-2-Bezug im Allgemeinen interessiert ist, der sei auf unseren Publikationsvergleich verwiesen, den wir „außer der Reihe“ zur gesamten Corona-Forschung ermittelt haben. Hier haben wir die Kriterien auch sinnvoll angepasst („Plötzlich Corona-Forscher“, Link).

SARS-CoV-2 als Eintrittskarte zu den meistzitierten „Köpfen“

Bleiben wir zunächst bei den meistzitierten Artikeln der Virusforschung: Auch wenn wir die Auswahl auf virologische Erkenntnisse eingrenzten und keine Corona-spezifischen Suchbegriffe zum Einsatz kamen, so drehen sich dennoch alle zehn Top-Veröffentlichungen um SARS-CoV-2. Das ist allein deshalb ungewöhnlich, weil nur die letzten drei Jahre unseres zehnjährigen Analysezeitraums in die Pandemie fallen. Bei unseren Vergleichen anderer Disziplinen verteilt sich die Zahl der für die jeweilige Community interessanten Paper eher gleichmäßig über den Analysezeitraum; folglich sind es dann meist die älteren Arbeiten, die mehr Zeit hatten, Zitierungen anzusammeln. Bei unserer letzten Publikationsanalyse zur Virologie in LJ 5/2017 hatten wir den Zeitraum von 2011 bis 2015 unter die Lupe genommen, und sechs der zehn meistzitierten Artikel hatten bereits 2011 das Licht der Welt erblickt. Diesmal aber stammen alle Artikel aus dem Jahre 2020 und damit aus dem letzten Drittel des Analysezeitraums.

Nicht jeder Mitwirkende jener Paper wird sich selbst allerdings als Virusforscher sehen. Das betrifft insbesondere die Artikel auf den Plätzen 4, 6, 8 und 10. Dort nämlich geht es um die Auswirkungen auf die Epithelien oder einzelne Organe, um Autopsiebefunde sowie um immunologische Auffälligkeiten infolge der Infektion. Dennoch werten wir diese Publikationen als virologisch, weil sie eben dabei halfen, die direkten Effekte von SARS-CoV-2 auf den Organismus zu protokollieren und somit auch die krankmachenden Mechanismen zu entschlüsseln. Gerade zu Beginn der Pandemie fehlten diese Kenntnisse und waren notwendig, um das Virus zu verstehen.

Auf annähernd 12.000 Zitierungen kommt der Artikel auf Platz 1 der Tabelle: Er beschreibt, wie SARS-CoV-2 über die Bindung zwischen viralem Spike-Protein und dem Rezeptor ACE2 des Wirts in die Zelle gelangt. Dazu braucht es notwendigerweise, so zeigen es die beteiligten Forscher, die Serinprotease TMPRSS2. Sogar im weltweiten Vergleich der Corona-Forschung behauptet sich diese Publikation als am vierthäufigsten zitierter Originalartikel (siehe oben erwähnten Corona-Publikationsvergleich, Link). Alle 13 Autoren gaben eine Adresse im deutschsprachigen Raum an, neun von ihnen waren oder sind an einem virologischen Institut tätig oder zeigten auch durch ihre anderen Veröffentlichungen ein zentrales Interesse an der Virusforschung. Allein die Beteiligung an diesem Paper ist damit zugleich ein Ticket in die obere Hälfte der Tabelle mit den meistzitierten „Köpfen“.

Dort wiederum liegt Christian Drosten mit 48.780 Zitierungen souverän auf dem ersten Platz – mit mehr als 20.000 Zitierungen Vorsprung auf den Zweitplatzierten. Doch bleiben wir zunächst bei Drosten und seinem Team vom Institut für Virologie der Berliner Charité: Drosten ebenso wie seine Kollegen Simon Schröder (12.) und Marcel Müller (3.) haben mitgeschrieben am Artikel auf der Pole-Position. Das am zweithäufigsten zitierte Paper der Tabelle präsentiert einen Corona-Nachweis via PCR und entstand sogar unter Drostens Federführung. Es erschien im Januar 2020, als der Name „SARS-CoV-2“ noch gar nicht vergeben war. Hieran beteiligten sich auch fünf weitere Mitarbeiter Drostens: Neben Erstautor Victor Corman (4.) sind das Tobias Bleicker (25.), Sebastian Brünink (21.), Julia Schneider (18.) und die nicht unter den Top 30 der „Köpfe“ gelistete Marie Luisa Schmidt. Insgesamt ist Drosten an fünf der zehn meistzitierten Artikel beteiligt.

Drosten macht Berlin und Bonn zu Hotspots

Fast zwangsläufig mausert sich Berlin somit zur dominierenden Stadt der „Köpfe“-Tabelle: Achtmal taucht die Hauptstadt auf, und siebenmal im Zusammenhang mit dem Drosten-Team. Drosten selbst wiederum war im Analysezeitraum zunächst am Institut für Virologie der Uniklinik Bonn tätig. Von dort folgte ihm ein Großteil seines Mitarbeiterstammes nach Berlin. Aus diesem Grund können wir Bonn mindestens sechsmal mit aktuellen „Köpfen“ in Zusammenhang bringen. Derzeit aber ist unter den dreißig meistzitierten Virusforschern nur Jürgen Rockstroh (23.) in Bonn tätig. Er forscht an HIV – und zwar nicht am virologischen Institut, sondern in der Infektiologie und Immunologie der Uniklinik. Tatsächlich durchlief er auch unseren Publikationsvergleich zur Immunologie, hatte dabei letztlich aber zu wenige Zitierungen für die Top 30. Wegen seiner 44 Arbeiten in virologischen Fachzeitschriften und weil sein zentrales Forschungsinteresse einem Virus gilt, gehört er aber ebenso in die Riege der Virusforscher.

Da wir nun schon die regionale Verteilung angesprochen haben, seien noch Hannover mit fünf und Göttingen mit vier Erwähnungen genannt. Jenseits der Bundesrepublik steht lediglich ein Name in der Liste: Wien mit dem im vergangenen Jahr verstorbenen Leberforscher Peter Ferenci (29.) von der Medizinischen Universität. Ferenci steht repräsentativ für die Herausforderung, vor die uns die Gastroenterologen und Leberforscher stellen, die eigentlich ein eigenes Ranking haben. Andererseits liegt genau in dieser Community auch die Expertise für Hepatitis C und andere virale Lebererkrankungen. Bei Ferenci drehen sich mehr als 70 Prozent seiner Veröffentlichungen um Hepatitis und antivirale Therapien. Sieben weitere vorrangig auf Hepatitis spezialisierte Forscher haben es in die Top 30 geschafft, deren Höchstplatzierter belegt mit rund 27.500 Zitierungen Platz 2 der „Köpfe“: Stefan Zeuzem von der Unklinik in Frankfurt am Main.

Hepatitis und krebsrelevante Viren

Wir haben uns dennoch bemüht, die Grenze zu den Gastroenterologen nicht allzu durchlässig zu gestalten. Wer sich anhand seiner Instituts-Webseite und dem Gesamteindruck der Publikationshistorie wohl eher allgemein als Leberforscher sieht, sollte möglichst außen vor bleiben.

Ein weiterer Ausreißer ist jedoch Michael Pawlita (26.) vom DKFZ in Heidelberg. Denn eigentlich haben wir nominelle Krebsforscher nicht eingeschlossen. Zwar gibt es Viren, die Tumore auslösen, doch die meisten Onkologen interessieren sich für die Veränderungen der Zellen und die Wucherungen im Patienten – und betrachten die auslösenden Erreger eher nebenbei. Da kann es in der einen Arbeit um ein Virus, in einer anderen aber um Helicobacter gehen. Pawlita hingegen richtete in mindestens 139 seiner 241 Artikel den Blick auf Viren und insbesondere auf die humanen Papillomviren.

Obwohl sich die Virologie insgesamt als klar umrissenes Forschungsfeld zeigt, kommt man also nicht um einige Einzelfallentscheidungen herum. Grundsätzlich aber treten virologisch ausgerichtete Wissenschaftler tatsächlich schlichtweg dadurch in Erscheinung, dass sie regelmäßig in virologischen Journalen publizieren. Aber auch hier wird die Abwägung durch die Pandemie kniffeliger: Corona mischt die „Köpfe“-Liste nämlich dadurch ordentlich auf, dass einige wenige Veröffentlichungen ausreichen, um mit jahrelang etablierten Virologen und Virologinnen zumindest in Sachen Zitierungen auf Augenhöhe zu sein. Wer als Arzt in einer Klinik arbeitet und eine Handvoll Paper verfasst hat, sollte aber nicht gleich als Virusforscher gesehen werden. Hier war uns entweder eine Adresse mit virologischem Bezug wichtig oder es galt, dass auch die anderen Arbeiten als roter Faden durch die Welt der Viren führen sollten.

Frauenanteil leicht gestiegen

Die Autorenlisten jener hochzitierten SARS-CoV-2-Artikel sind wir daher von Hand durchgegangen. Darüber hinaus haben wir jeden Namen auch unabhängig von der Institutsadresse und von virusrelevanten Schlagworten genauer angeschaut, wenn er mindestens 20-mal im Analysezeitraum auf Autorenlisten in Zeitschriften auftauchte, die das Web of Science der Virologie zuordnet.

Übrigens tragen diesmal fünf der „Köpfe“ weibliche Vornamen, allen voran Nadine Krüger (8.) vom Deutschen Primatenforschungszentrum (DPZ) Göttingen. Ein Frauenanteil von gut 15 Prozent ist natürlich noch weit entfernt von einem ausgeglichenen Geschlechterverhältnis. Zwar gab es auch schon 2017 in unserer Publikationsanalyse zur Virusforschung fünf Frauen – allerdings waren es damals noch 50 „Köpfe“, die wir für die Tabelle zusammengetragen hatten. Immerhin hat sich also der relative Frauenanteil einen Tacken nach oben bewegt.

Last but not least sei noch ein Paper des aktuellen Rankings erwähnt, das nichts mit Corona am Hut hat: Der am dritthäufigsten zitierte Review-Beitrag widmet sich den Affenpocken.


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Letzte Änderungen: 21.03.2024