Editorial

Zwischen abwehrbereit und tolerant

Publikationsanalyse 2012-2021: Immunologie
von Mario Rembold, Laborjournal 11/2023


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Medizinerin hält großen Plüsch-Antikörper samt gebundenem Antigen in den Händen

(10.11.2023) Die Immunologie als eigenständige Disziplin festzunageln, ohne sich in anderen „Genres“ zu verzetteln, ist eine Gratwanderung. Daher zählten diesmal vor allem die Beiträge in den einschlägigen Fachblättern.

Jedes Lebewesen muss sich von seiner Umwelt abgrenzen. Zugleich ist jedes Lebewesen darauf angewiesen, mit der Umwelt zu interagieren, einen Stoffwechsel aufrechtzuerhalten und somit Dinge aufzunehmen und wieder auszuscheiden. Also gilt es, die Grenzen zur Außenwelt ausgewogen abzusichern, unerwünschte Eindringlinge aber konsequent zu bekämpfen. Selbst die einfachsten Organismen haben Mechanismen zur Pathogenabwehr – denken wir etwa an das CRISPR-Cas-System, das die Bakterien ursprünglich nicht für die Molekularbiologie entwickelt hatten.

Andererseits: Es gibt auch nützliche Mitbewohner, sogar lebensnotwendige – zum Beispiel im menschlichen Darm. Auch Insekten oder Süßwasserpolypen gehen Lebensgemeinschaften mit Mikroorganismen ein. Abwehren, was schädlich ist, harmlose Untermieter tolerieren und Nützlinge willkommen heißen – für diese Abwägungen brauchen Lebewesen ein Immunsystem. Auch wenn wir bei „Immunsystem“ an höher entwickelte Wirbeltiere denken und dort zwischen angeborenem und erworbenem Immunsystem sowie zwischen zellulärer und humoraler Immunantwort unterscheiden – Homologe zu immunrelevanten Molekülen wie den Toll-like-Rezeptoren finden wir sogar bei Drosophila und anderen Wirbellosen.

Chauvinistischer Blick

Zugegeben, wir gehen im Folgenden nun ziemlich chauvinistisch vor, wenn wir die Immunologie auf die vor allem medizinisch ausgerichtete Forschung an Mensch und Maus reduzieren. Doch die in Web of Science als immunologisch ausgewiesenen Fachzeitschriften haben nun mal alle diesen medizinischen oder humanen Fokus.

Allerdings müssen wir uns selbst mit dieser klaren Einschränkung schon sehr in Acht nehmen, thematisch nicht zu weit auszuschweifen. Denn früher oder später kommt man bei kaum einer medizinischen Disziplin am Immunsystem vorbei. Gastroenterologen stoßen auf chronisch-entzündliche Darmerkrankungen, Neuroforscher haben es mit Multipler Sklerose zu tun, Anästhesisten publizieren regelmäßig zur Sepsis, und für Rheumatologen ist die Immunologie ohnehin ihr täglich Brot.

Eine Publikationsanalyse speziell zur Immunologie soll nun aber nicht bloß all jene Forschenden in einem Topf verrühren, die wir ohnehin schon in eigenen Vergleichen unter die Lupe nehmen. Für die Liste der meistzitierten „Köpfe“ interessierte uns daher in allererster Linie der Output an Artikeln in immunologischen Journalen. Hier sollte die absolute Anzahl eine deutliche Sprache sprechen und auch ein großer Anteil der Forschungsaktivität einfließen. Wer laut Web of Science unter den ersten drei oder vier favorisierten Forschungsthemen andere Kategorien gelistet hat, passt wahrscheinlich auch besser in eine andere Disziplin.

In einigen Fällen haben wir sogar trotz hoher Beteiligung in Sachen Immunologie eine Grenze gezogen. Das gilt insbesondere für die Virologen. Christian Drosten oder Martin Beer wären klare Kandidaten für die „Köpfe“-Tabelle, aber die Virologie ist ein sehr gut abgrenzbares Genre. Es gab nur wenige Ausnahmen, vor allem bei den HIV-Forschern.

Aus dieser Subgruppe schaffte es beispielsweise Gerd Fätkenheuer von der Uniklinik Köln unter die Top 30 – er belegt den 19. Platz. Mehr als die Hälfte seiner Zitierungen erzielte er durch zwei Arbeiten zu antiviralen Behandlungen: Fast 4.400-mal fand ein Artikel über Remdesivir gegen SARS-CoV-2 Erwähnung (New Engl. J. Med. 383(19): 1813-26), rund 1.900 Zitierungen erbrachte ein Paper zur antiviralen HIV-Therapie in der frühen symptomfreien Phase der Infektion (New Engl. J. Med. 373(9): 795-807). Andere Arbeiten drehen sich um Antikörper in HIV-Patienten oder Oberflächenproteine der T-Zellen.

Schwierige Schnittmengen

Auch wenn sich Fätkenheuer demnach zweifelsohne für Viren interessiert, so ist die „Virologie“ trotzdem nicht die Hauptkategorie seiner Publikationen im Web of Science. Sie folgt erst auf Platz 3 nach „Infektionskrankheiten“ und eben „Immunologie“. Die allermeisten derer hingegen, die überwiegend in virologischen Zeitschriften veröffentlichen, werden sich auch ihrem eigenen Berufsverständnis nach klar als Virologen positionieren. Für Forscherinnen und Forscher, die auf diese Weise deutlich in der Virologie verortet sind, gibt es übrigens schon mit der nächsten Publikationsanalyse ein eigenes Ranking.

Ebenfalls außen vor gelassen haben wir die Epidemiologen. Jene Kandidaten in der engeren Auswahl waren vor allem an Metastudien beteiligt, und sie sind grundsätzlich weniger an den eigentlichen zellulären und molekularen Mechanismen des Immunsystems interessiert.

Umgekehrt aber: Forschende aus den Neurowissenschaften, denen wir eine Neugier für Immunologie anhand der Anzahl ihrer Veröffentlichungen in entsprechenden Journalen unterstellen durften, haben wir sehr wohl in die „Köpfe“-Liste aufgenommen. Aus dieser Riege liegt der Neuropathologe Marco Prinz vom Uniklinikum Freiburg ganz vorn und belegt sogar Platz 3 des Siegertreppchens. Mikroglia, Makrophagen oder das Wechselspiel zwischen Mikrobiom und zentralem Nervensystem sind Beispiele aus seinen Forschungsarbeiten. Noch ein Beispiel: Der Neuroimmunologe Hans Lassmann (18.) von der medizinischen Universität Wien war im Analysezeitraum unter anderem Pathomechanismen der Multiplen Sklerose oder Autoantikörpern bei Enzephalitis auf der Spur.

Auch bei einigen Rheumatologen sticht die Menge an Publikationen in explizit immunologischen Journalen hervor. Im Fall von Eicke Latz, tätig am Rheumaforschungszentrum Berlin, waren 48 Artikel als „immunologisch“ kategorisiert. Daher ist er mit dabei und belegt mit fast 17.000 Zitierungen den 8. Platz. Auch Georg Schett von der Uniklinik Erlangen ist an einem nominell rheumatologisch ausgerichteten Institut tätig und kann 58 Paper in Immunologie-Journalen vorweisen. Insgesamt war er im Analysezeitraum an 435 Artikeln beteiligt, die zusammen mehr als 24.000-mal zitiert wurden. Damit belegt er den zweiten Platz.

Weitere Schnittmengen gibt es zwischen Onkologie und Immunologie. Beispielsweise sind Erkrankungen des blutbildenden Systems Sache der Hämatologen, und die publizieren mitunter reichlich in immunologischen Journalen. Ein Thema dabei ist die Graft-versus-Host-Erkrankung nach Stammzelltransplantationen. Bei dieser lebensrettenden Therapie landet, wenn man so will, das Immunsystem eines Spenders in einem vollkommen anderen Körper – und das kann zu Abwehrreaktionen führen. Auch die Krankheitsbilder für sich genommen betreffen Funktionen des Immunsystems, wenn es etwa um Leukämien oder Lymphome geht. Zwar wollten wir die „Köpfe“-Tabelle nicht allzu sehr mit „typischen“ Krebsforschern verwässern, aber auch hier fanden wir einige Namen, die mit immunnahen Forschungsartikeln verknüpft waren. Sie machen rund ein Viertel der „Köpfe“-Liste aus, angeführt von Hermann Einsele (4.) von der Uniklinik Würzburg.

Mit über 36.000 Artikeln souverän auf Platz 1 landete Mihai Netea, der am Life & Medical Sciences Institute (LIMES) in Bonn die Abteilung Immunologie und Metabolismus leitet. Er war im Analysezeitraum an 515 Artikeln beteiligt – was bedeutet, dass er im Schnitt ein Paper pro Woche mitverfasst hat. 153 dieser Arbeiten erschienen in immunologischen Fachblättern.

Die Tabellen mit den meistzitierten immunologischen Artikeln und Reviews haben wir rein thematisch ausgewählt: Berücksichtigt wurde nur, was auch wirklich einen immunologischen Mechanismus thematisiert. Das können dann auch Interventionen gegen Tumorerkrankungen sein, bei denen man das Immunsystem als therapeutisches Werkzeug einsetzt. Entsprechend finden sich etwa Arbeiten zu Checkpoint-Blockaden auf den Plätzen 6, 7 und 9 in der Artikel-Tabelle.

Zugleich sehen wir eine deutliche Entkopplung zwischen den Namen auf der „Köpfe“-Liste und den Autoren der meistzitierten Paper. Denn nicht jeder Forscher, der als Mitautor auf einem Paper über Makrophagen oder T-Zellen steht, ist hauptberuflicher Immunologe – und wenn, dann müsste er im deutschsprachigen Raum tätig sein, um hier Berücksichtigung zu finden. Gleichsam sammeln Immunologen ihre Zitate auch umgekehrt durch Beiträge, die im Einzelfall nicht in unsere Artikel-Auswahl passten. Die wenigen Ausnahmen sind Peter Bader (25.) von der Uniklinik Frankfurt, der den am dritthäufigsten zitierten Artikel zur lymphatischen Leukämie mitverfasst hat, oder der bereits erwähnte Marco Prinz als Senior-Autor des neuroimmunologischen Artikels auf Platz 10.

Und die Frauen?

Übrigens, die meistzitierte Frau aus den Reihen der Immunologen heißt Margitta Worm (20.) und erforscht allergischen Schnupfen, Asthma und atopische Dermatitis an der Berliner Charité – Universitätsmedizin. Eigentlich sollte das Geschlecht keine Kategorie sein bei der Bewertung wissenschaftlicher Leistung, aber auch dieses Mal fällt wieder aufs Neue – und fast schon in „guter“ alter Tradition – der große Männeranteil im Ranking ins Auge: Worm ist eine von nur drei Frauen unter den dreißig meistzitierten „Köpfen“. Im letzten Immunologie-Durchlauf von 2017 lag noch Melanie Greter bei den Damen vorn, die diesmal die oberen 30 knapp verfehlte. Immerhin aber gab es damals nur zwei Immunologinnen auf den vorderen dreißig Plätzen. Der weibliche Anteil ist also um 50 Prozent gestiegen.

Abschließend wie immer noch der Blick auf die regionalen Hotspots. Fünf der meistzitierten „Köpfe“ forschten im Analysezeitraum in Berlin, hier ist vor allem die Charité als wichtigste Wirkstätte zu nennen. Viermal sehen wir Bonn in der Tabelle, gefolgt von drei Erwähnungen für Freiburg im Breisgau. Wien ist mit zwei Vertretern als einziger Standort aus Österreich mit dabei, während sich die vier „Köpfe“ aus der Schweiz auf Basel, Bern, Davos und Zürich verteilen.


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Letzte Änderungen: 10.11.2023