Editorial

Was Tierärzte über Viren wissen

Publikationsanalyse 2012-2021: Tiermedizin
von Mario Rembold, Laborjournal 9/2023


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Ökologie-Forscherin mit Laptop im Feld

(08.09.2023) Triggerwarnung: Tierärzte sind auch schon mal Corona-Experten. Zoonosen und Veterinärmedizin liegen nämlich nah beieinander.

Auf den nicht immer ganz so sozialen Online-Medien gehören Beschimpfungen zum Alltag, und gerade in Corona-Zeiten blieb kaum eine Person des öffentlichen Lebens davon verschont. Ziel des Spottes war unter anderem auch Lothar Wieler, von 2015 bis 2023 Präsident des Robert-Koch-Instituts (RKI). „Da predigt jemand, wie wir Menschen uns einem Virus gegenüber verhalten sollen, um uns zu schützen – und was hat der für Kompetenzen? Tierarzt!“

Wer ein bisschen näher dran ist an Forschung und Medizin, weiß indes: Es sind gerade die Veterinärmediziner, die in Sachen Zoonosen den Durchblick haben. Sucht eine neue Pandemie die menschliche Population heim, so gab es zuvor meist ein tierisches Reservoir. Welche Erreger gibt es im Tierreich, die dem Menschen gefährlich werden können? Nicht zuletzt gehen dieser Frage demnach Tiermediziner auf den Grund.

Tatsächlich waren hier speziell Coronaviren bereits vor dem März 2020 im Fokus, wie in diesem Publikationsvergleich das Paper auf Platz 6 der meistzitierten Artikel belegt: Es erschien 2013 und widmete sich dem MERS-Coronavirus in Kameltieren. Nicht nur Protagonisten wie Christian Drosten aus klassisch virologischen Instituten haben mitgeschrieben, sondern auch Norbert Nowotny von der Veterinärmedizinischen Universität Wien. Ihn finden wir auf Platz 25 der meistzitierten „Köpfe“.

Der schlagfertige Verschwörungsideologe wird nun kontern, das alles sei ja der Beweis, wie lange im Voraus Pandemien geplant würden. Wer faktennäher im Leben steht, dürfte inzwischen aber mit etwas mehr Demut auf Publikationen der Veterinär-Community schauen – auch im Hinblick auf mögliche künftige Pandemien.

Erreger aus dem Tierreich

Zumal es nicht nur Viren gibt, die uns Menschen über den Weg vom Tier schaden können, sondern auch jede Menge eukaryotischer Parasiten. Bandwürmer zum Beispiel, wie sie Hund und Katze mitbringen, wenn sie draußen unterwegs sind und nicht regelmäßig entwurmt werden. 2020 zum Beispiel hatte uns Peter Deplazes von der Uni Zürich über die Rückkehr des Fuchsbandwurms in die Städte berichtet (siehe LJ online: „Parasiten vor der Stadt“, 14.09.2020, Link). Sein Team erforscht unter anderem die zum Glück seltene Echinokokkose beim Menschen, ausgelöst durch ebenjenen Fuchsbandwurm. In der „Köpfe“-Liste verfehlt Deplazes diesmal allerdings knapp einen Platz unter den ersten dreißig, dafür steht sein Name aber auf dem am siebthäufigsten zitierten Artikel – und klar, es geht um Bandwürmer. Um einen parasitologisch tätigen Forscher aus den Top 30 zu nennen, sei Paul Torgerson (21.) erwähnt, der an der Uni Zürich unter anderem Echinococcus oder Toxoplasmose erforscht.

Veterinär-Expertise ist auch gefragt, wenn es um Lebensmittelsicherheit geht: Speisen, die mit krankheitserregenden Bakterien kontaminiert sind, gehören zwar nicht auf den Tisch, aber durchaus ins Labor von Stefan Schwarz (5.), der im Analysezeitraum über Bakterien wie Staphylococcus, Enterococcus oder E. coli publiziert hat und am Institut für Mikrobiologie und Tierseuchen der Freien Universität Berlin tätig ist. Reine Lebensmittelwissenschaftler ohne jeden Bezug zum Tier haben wir aber ausgeklammert.

Dieser kurze Rundumschlag, der eine Verbindung von Haus-, Nutz- und Wildtieren zur menschlichen Gesundheit zieht, führt uns aber auch schon zum wesentlichen Stolperstein der aktuellen Publikationsanalyse: Wir haben jeweils eigene Vergleiche für Virologie, Parasitenforschung und Mikrobiologie. Das ist auch der Grund, warum Namen wie Victor Corman oder Christian Drosten in der „Köpfe“-Liste fehlen, obwohl sie in den Autorenlisten der meistzitierten Artikel aufploppen. Denn wir wollten eben nicht die klassischen Virologen präsentieren, sondern einen Querschnitt durch die tiermedizinische Forscherwelt abbilden.

Andererseits ist bei Weitem nicht jeder „Kopf“ aus den Top 30 ein gelernter Tierarzt. Dieser Hintergrund ist zwar ein wichtiges Merkmal und sorgt im Zweifelsfall dafür, dass wir die Kandidatin oder den Kandidaten mit in die Liste aufnehmen, aber im Web of Science können wir nicht systematisch nach beruflichem Werdegang filtern. Für uns relevant ist daher die Institutsbezeichnung. Eine „tierärztliche“ Einrichtung oder das Adjektiv „veterinärmedizinisch“ sind klare Indizien dafür, dass jemand, der dort arbeitet, auch mit einer tierärztlichen Community identifiziert werden möchte.

Mit SARS-CoV-2 auf die 1

Dennoch können wir häufig nicht anhand der aktuellen Adresse festmachen, dass jemand veterinärmedizinisch geprägt ist, aber wir sehen, dass in den Suchergebnissen regelmäßig entsprechende Adressen genannt sind. So war es beim Platz 1 der meistzitierten „Köpfe“: Das Deutsche Primatenzentrum in Göttingen beherbergt Versuchstiere (wie etliche biologische Forschungsinstitute), aber es gibt eben nicht die typischen Bezüge zu Zoonosen, Tierkrankheiten, Nutztierhaltung und Ernährung. Wissenschaftler betreiben dort Grundlagenforschung mit starkem Bezug zu klinischen und medizinischen Fragestellungen. Auch die Erstplatzierte unseres Zitationsvergleichs, die Tierärztin Nadine Krüger, arbeitet heute dort, war zuvor jedoch in Hannover an der Tierärztlichen Hochschule (TiHo) zuhause und publizierte im Analysezeitraum einen Großteil ihrer Arbeiten von dort aus.

Im letzten Publikationsvergleich zur Tiermedizin aus dem Jahr 2017 landete Martin Beer vom Friedrich-Loeffler-Institut (FLI) auf der Insel Riems noch souverän auf der Pole Position. Dieses Mal kam er mit insgesamt 423 Artikeln und 11.605 Zitierungen auf Platz 3. Wie schaffte es Nadine Krüger, mit „nur“ 22 Artikeln Beer vom Thron zu stoßen? Sie war Mit-Autorin des meistzitierten Corona-Artikels überhaupt aus unserem Verbreitungsgebiet über den Zelleintritt von SARS-CoV-2 mittels ACE2 (Cell 181(2): 271-80; siehe auch LJ online: „Plötzlich Corona-Forscher“, 26.06.2023, Link). Allein diese Beteiligung brachte ihr mehr als 11.000 Zitierungen. Aus demselben Grund landete Georg Herrler von der TiHo Hannover gleich dahinter auf Platz 2 des Siegertreppchens.

Diese beiden Ausreißer zeigen auf ein Neues, dass Zitierzahlen keine pauschale Aussagekraft haben. Das besagte Corona-Paper selbst hatte in diesem Fall nämlich keinen veterinärmedizinischen Hintergrund, sehr wohl aber die beiden Forscher. Eine Tierärztin in der Wissenschaft schreibt eben nicht nur Artikel über Parasiten im Hundedarm oder Zoonosen, sondern sie kann ihre Fühler weit ausstrecken zur Zellbiologie, Toxikologie oder sogar bis in die Neuropharmakologie. Letztere stellt etwa das Betätigungsfeld von Wolfgang Löscher (24.) dar, ebenfalls von der TiHo Hannover; seine Arbeiten widmen sich zum Beispiel antiepileptischen Wirkstoffen.

Wir haben daher nicht jedes Paper, auf dem ein Autor mit veterinärbezogener Adresse steht, automatisch als tiermedizinische Publikation eingeordnet. Andererseits: Im Zweifelsfall werten wir eine virologische Arbeit – wie die Artikel auf Platz 6 oder 8 oder die Parasitenstudie auf Platz 7 – als passend zum „Genre“, sofern einer der Autoren auch für die „Köpfe“-Liste qualifiziert wäre. Beim meistzitierten Artikel wiederum gibt es in der Autorenliste überhaupt keine tiermedizinische Beteiligung, thematisch aber fügt sich die Genomik des Schweins sehr wohl in diese Publikationsanalyse ein.

Weggelassen haben wir für die Artikelliste Publikationen, in denen zwar Tiere vorkamen, aber lediglich als Modellorganismus dienten. Auch wenn ein Name aus der Riege der Tiermedizin vertreten war, sind wir in diesen Fällen streng geblieben. Insbesondere Maus-Studien gehen ja normalerweise grundlegenden molekularbiologischen oder physiologischen Fragestellungen nach und haben nicht viel mit veterinärwissenschaftlicher Forschung zu tun. Auch das Tracking von Wildtieren zur Erfassung der Biodiversität sollte hier nicht Thema sein – das ist Sache der Ökologen.

Namensvetter und falsche IDs

Neben fachlichen Abwägungen stehen wir beim Erstellen der „Köpfe“-Listen aber auch vor ganz anderen Herausforderungen: Manchmal gibt es Namensvetter in derselben Stadt, oder derselbe Autor verwendet unterschiedliche Vornamen. Steht im Ausweis „Nikolaus“, aber in einzelnen Publikationen wird auch mal „Klaus“ verwendet, so hätten wir natürlich keine Chance, über das Vornamenkürzel „N“ auf diese Arbeiten zu stoßen und sie für die Zitate zu berücksichtigen. Im besagten Fall gab es zum Glück einen Identifikator, der uns aus der Patsche half – und am Ende waren die Zitierzahlen dann ohnehin zu niedrig für die vorderen dreißig Plätze.

Ist ein Identifikator wie die ORCID aber nicht vorhanden oder kommt er nur gelegentlich zum Einsatz, stehen wir mitunter ziemlich ratlos da. Etwa, wenn „Rainer G. Ulrich“ vom FLI in Riems plötzlich mit gleicher Adresse scheinbar „Reiner“ heißt. Ein Schreibfehler? Das sehen wir oft! Dank persönlicher Nachfrage erfuhren wir jedoch: Es gab am FLI tatsächlich einen Reiner G. Ulrich. Aber nur bei Rainer mit „a“ kamen genügend Zitate für die Top 30 zusammen – konkret für Platz 18. Dass wir aus dutzenden Kandidaten der engeren Auswahl nicht jeden Zweifelsfall telefonisch klären können, dürfte klar sein.

Wer als Forscherin oder Forscher also gefunden und korrekt zugeordnet werden möchte, sollte in jedem Fall einen eindeutigen Identifier pflegen und gelegentlich die Einträge prüfen. Denn selbst die ORCID landet immer wieder mal auf der Publikation eines Namensvetters. Solche Fehler in der Datenbank fallen uns mit etwas Glück auf, aber hier sind unsere Möglichkeiten trotz aller Sorgfalt begrenzt.

Vier Hotspots

Zu guter Letzt noch die geografische Verteilung: TiHo Hannover und das FLI Riems liegen mit je sechs Erwähnungen gleichauf. Zählen wir noch die Standorte Braunschweig und Neustadt-Mariensee mit, käme das FLI achtmal in der Tabelle vor. Wertet man die Vetsuisse mit Bern und Zürich als einen Standort, so kommen sieben Köpfe zusammen, die im Analysezeitraum dort tätig waren. Die veterinärmedizinische Universität in Wien ist fünfmal vertreten. TiHo, FLI, Vetsuisse und Wien sind also die vier Hotspots der Tiermedizin in unserem Verbreitungsgebiet.

Um den Kreis zu schließen: Lothar Wieler belegt Platz 29 der meistzitierten „Köpfe“, fällt aber in seiner Publikationsaktivität weniger durch Corona als vielmehr durch mikrobiologische Themen auf. Dafür dürfen sich die mitlesenden Social-Media-Schreihälse heute mal über eine Frau ärgern (eine von nur dreien übrigens): Jene Tierärztin, die Platz 1 belegt und außerdem am meistzitierten SARS-CoV-2-Paper aus dem deutschsprachigen Raum beteiligt war. Virus-Expertise und Tiermedizin passen nämlich sehr gut zusammen!


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Letzte Änderungen: 08.09.2023