Editorial

Neurowissenschaftler geben den Ton an

Publikationsanalyse 2012-2021: Anatomie und Morphologie
von Mario Rembold, Laborjournal 1-2/2023


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Illustr.: AdobeStock / adimas

(07.02.2023) Einige Neurowissenschaftler betreiben via funktioneller Bildgebung noch anatomische Forschung im klassischen Sinn. Ansonsten sind Anatomen über ihre Institutsbezeichnung oder ihren Lebenslauf definiert.

Anatomie bleibt essentielles Lehrfach in der medizinischen Ausbildung. Schließlich muss jede Ärztin und jeder Arzt Bescheid wissen, wie ein Mensch aufgebaut ist. Dass man aber im eigentlichen Sinne anatomisch forscht, ist heute selten. Schließlich ändert sich auf der „Landkarte“ menschlicher Gewebe und Organe nicht mehr viel – mit einer Ausnahme: In den Neurowissenschaften gibt es nach wie vor viel zu entdecken über den funktionellen Aufbau des Gehirns. Klar, auch so etwas wie einen „Atlas der Neuroanatomie“ gibt es schon seit Jahrzehnten, aber eben erstellt anhand morphologischer und histologischer Merkmale. Damals konnte man von den heutigen Möglichkeiten funktioneller Bildgebung nur träumen.

„Klassiker“ Gehirn

Damit ist klar, warum so viele Neuroanatomen unter den meistzitierten Köpfen auftauchen – mehr als die Hälfte von ihnen forscht zu Gehirn, neuronaler Bildgebung oder Neuroimmunologie. Sie gehören vielleicht zu den letzten Wissenschaftlern, die wirklich noch neue Erkenntnisse zur Anatomie eines menschlichen Organs generieren. Zu deren „Urgesteinen“ zählt etwa der 2020 verstorbene Neuroanatom Karl Zilles, der zusammen mit Gerd Rehkämper 1993 die Erstauflage des Lehrbuchs „Funktionelle Neuroanatomie“ verfasst hatte. Zilles war zuletzt tätig am Forschungszentrum Jülich und steht auf Platz 5 der meistzitierten Forscherinnen und Forscher.

Wer unsere Publikationsanalysen regelmäßig liest, weiß aber, dass die Neurobiologie bereits in drei anderen Rankings vertreten ist: Neben dem klinischen und nicht-klinischen Teil der Neurowissenschaften stellen wir auch die Verhaltensneuroforschung vor. In der Rubrik „Anatomie“ sollten daher nur Neurowissenschaftler vorkommen, die auch zentral am Aufbau des Gehirns sowie seiner Konnektivität interessiert sind, oder die explizit an einem anatomisch ausgerichteten Institut ihr Namensschild an der Klingel haben.

Die Institutsbezeichnung war für uns das wichtigste Kriterium, vor allem außerhalb der Neuroanatomie. Denn jenseits des Gehirns findet „Anatomie“ als Forschungsdisziplin kaum noch statt – oder überschneidet sich mit den Pathologen, die ihr eigenes Ranking bekommen. Hierzu müssen wir uns jedoch klarmachen, dass anatomische Institute häufig nur aus historischen Gründen ihre Namen tragen – und teilweise Forscher aus ganz anderen Feldern dort residieren. Zum Beispiel findet man dort Physiologen wie den inzwischen emeritierten Hermann Koepsell (8.) von der Uni Würzburg – er publizierte zu Glucosetransport, Nierenfunktion und Diabetes. Oder es gibt dort den Entwicklungsbiologen Lukas Sommer (22.) von der Uni Zürich, der zur Entwicklung der Neuralleiste forscht. Oder auch an der Berner Uni den Angiogenese-Fachmann Valentin Djonov (18.).

Institut und Lehre

Natürlich schauten wir auch auf die Details im Web of Science. Wer regelmäßig in Zeitschriften der Kategorie „Anatomy & Morphology“ publiziert, kommt in die engere Auswahl. Dieser sonst sehr aussagekräftige Filter für die jeweilige Forschungsdisziplin erwies sich hier aber nur sehr eingeschränkt als hilfreich. Mehdi Shakibaei (20.) von der Ludwig-Maximilians-Universität München zum Beispiel veröffentlicht über Entzündungen und Phytochemikalien wie auch über die Biologie von Tumoren. In der einschlägigen Web-of-Science-Kategorie erschien allerdings kein einziger seiner Artikel im Analysezeitraum. Dabei arbeitet Shakibaei nicht nur am dortigen Institut für Anatomie, sondern er lehrt auch Anatomie, Histologie und Embryologie.

Ähnlich Berthold Huppertz (26.) von der Medizinischen Universität Graz. Er ist Embryologe, von seiner Ausbildung her aber auch Anatom und Mitglied der Anatomischen Gesellschaft. Zugegeben, die Sache hat einen Haken: Wer sowohl anatomisch ausgebildet ist als auch über seinen Lehrauftrag oder seine Mitgliedschaft in einer entsprechenden Fachgesellschaft als Anatom auffällt, sollte als Kandidat in unserer Liste berücksichtigt werden. Doch weil wir diese Kriterien nicht über die Suchfilter im Web of Science systematisch abfragen können, mag uns der eine oder andere Anatom entgangen sein. Dennoch sind wir optimistisch, dass die potenziell übersehenen Namen für die Top 30 der meistzitierten Köpfe keine Rolle spielen. Über das Abfragen von Institutsbezeichnungen, Kategorie der veröffentlichten Artikel sowie den Co-Autorschaften mit anderen Anatomen dürften nämlich zumindest all jene „Verdächtige“ erfasst worden sein, die viele Zitate sammeln konnten.

Die Zitierzahlen selbst eignen sich im Anatomie-Ranking daher allerdings noch weniger also sonst, um die Leistungen einzelner Forscher zu bewerten. Allenfalls könnte man speziell die Neuroanatomen herauspicken, weil hier eine gewisse Vergleichbarkeit gegeben ist. Simon Eickhoff sticht hervor, der sowohl an der Uni Düsseldorf als auch am Forschungszentrum Jülich tätig ist und die Köpfe-Liste souverän anführt. Mehr als 21.000 Zitierungen stehen auf seinem Konto; das ist das Dreieinhalbfache des zweitplatzierten Daniel Margulies, der bis 2017 am Max-Planck-Institut für Kognitions- und Neurowissenschaften zu Hause war. Beide sind Neurowissenschaftler, und interessanterweise unterscheiden sich beide auch etwa um den Faktor 3,5 in der Anzahl der publizierten Artikel.

Will man also ein wertendes Resümee ziehen, so könnte man vielleicht vorsichtig die folgende Aussage treffen: Neuroanatomen aus den Top10 waren in besonders produktiven Arbeitsgruppen tätig. Wer regelmäßig unseren „Wissenschaftsnarren“ liest und schätzt, wird nun aber anmahnen: Auch die absolute Anzahl veröffentlichter Artikel kann über die Qualität der Forschung täuschen.

Was auffällt bei den meistzitierten Köpfen der Anatomie: Im Vergleich zu anderen klinisch geprägten Disziplinen fallen die Zitierzahlen diesmal moderat aus. Zuletzt etwa brauchte ein Lungenforscher mindestens 8.100 Zitierungen, um überhaupt für die Top 30 in Frage zu kommen. Platz 2 der Anatomen sammelte hingegen „nur“ 5.992 Zitierungen, und Sebastian Bachmann auf Platz 30 genügen 1.599 Zitierungen, um noch namentlich erwähnt zu werden. Somit rückt die Publikationsanalyse zur Anatomie auch einmal Forscher ins Blickfeld, die nicht über Beiträge zu Genomik oder Krebs auf massenhafte Zitierzahlen kommen.

So divers die Köpfe-Liste ausfällt, haben wir doch eine weitere Grenze gezogen, die das Web of Science mit „Anatomy & Morphology“ nicht vornimmt: Wir sind „am Menschen“ geblieben. Ansonsten ständen auch noch einige Zoologen auf der Liste, die mit Arthropoden arbeiten und zum Beispiel von naturkundlichen Museen zu Rate gezogen werden. Denn anhand der Mundwerkzeuge und Geschlechtsorgane können diese Experten die Art bestimmen – und zwar ganz ohne Genomik. Rolf Beutel vom Institut für Spezielle Zoologie und Evolutionsbiologie der Uni Jena wäre sonst weit vorn dabei, mit 4.732 Zitierungen aus 190 Artikeln – 19 davon in der einschlägigen Kategorie zur Anatomie und Morphologie. Vom selben Institut kommt Hans Pohl auf 2.288 Zitierungen aus 37 Artikeln.

Keine Tiere, keine Evolution

Schwierig wäre dann jedoch die Abgrenzung zur Evolutionsbiologie gewesen, zumal uns auch noch Paläontologen mit ins Netz gegangen wären. Um bei den Arthropoden zu bleiben: Beutel, Pohl und etliche weitere Insektenspezialisten aus dem Verbreitungsgebiet verfassten 2014 einen Artikel zur Phylogenomik vor dem Hintergrund der Evolution der Insekten (Science 346: 763-7). Beachtliche 1.534-mal wurde diese Arbeit zitiert. Sie hätte eine ganze Reihe von zoologisch ausgerichteten Evolutionsforschern mit in die Kandidatenliste gespült, die letztlich nur durch dieses eine Genomik-Paper auf die vielen Zitierungen gekommen wären. Ein ohnehin schon sehr heterogenes Ranking hätten wir dadurch noch mehr verwässert.

So aber können wir zumindest festhalten: In der Köpfe-Liste stehen Anatomen oder Forscher anatomischer Institute, die vorwiegend klinischen oder medizinischen Fragen nachgehen. Folgerichtig haben wir daher auch die meistzitierten Artikel und Reviews anhand der Autorschaften ermittelt: Welche Paper haben die nach obigen Kriterien als Anatomen identifizierten Forscher im Analysezeitraum verfasst? Und es sollte mindestens ein Anatom aus dem Verbreitungsgebiet auf jeder Autorenliste stehen.

Nur Neuro-Paper

Ergebnis: Alle hochzitierten Arbeiten sind den Neurowissenschaften zuzuordnen. Bei den Artikeln hat Eickhoff die Nase vorn: Acht der zehn meistzitierten Veröffentlichungen hat er mit verfasst, darunter statistische Verfahren, um Artefakte aus bildgebenden Daten herauszurechnen (Platz 2) oder Datensätze aus unterschiedlichen Experimenten vergleichbar zu machen (Plätze 3 und 5). Mit den Konnektomen und der corticalen Organisation des menschlichen Gehirns decken die Artikel auf den Plätzen 1, 6 und 7 klassisch anatomische Themen ab. Auch die Neuroimmunologie taucht durch Beiträge von Neuroanatomen in der Artikel-Tabelle auf. So widmet sich das Paper auf Platz 8 der Multiplen Sklerose, während es auf Platz 9 um die Makrophagen im zentralen Nervensystem geht.

Als regionaler Hotspot der Anatomie hat sich Jülich herauskristallisiert – durch sechs Hirnforscher, die im Analysezeitraum am dortigen Forschungszentrum tätig waren. Zählen wir Aachen aufgrund der räumlichen Nähe noch hinzu, so kommen wir auf acht Forscher, die in dieser Region tätig waren – zumal Jülich und die RWTH Aachen in Sachen Neuroanatomie ohnehin gern kooperieren.

Je dreimal tauchen Leipzig und Ulm als Adresse auf, und auch hier waren ausnahmslos neurobiologisch ausgerichtete Wissenschaftler aktiv. Die Schweiz kommt dank Bern und Zürich zweimal vor, ebenso wie Österreich mit Graz und Salzburg.

Die meistzitierte Forscherin ist Katrin Amunts auf Platz 6. Die Neurowissenschaftlerin forscht ebenfalls in Jülich und hat eine Professur an der Uni Düsseldorf. Insgesamt schafften es immerhin fünf Frauen in die Liste der dreißig meistzitierten Köpfe. Für eine medizinische Disziplin ist das zumindest mal nicht schlecht.


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Letzte Änderungen: 07.02.2023