Editorial

Morbus Fabry - Diagnostik-Pingpong

Karin Hollricher


(11.10.2023) Morbus Fabry gehört zu den seltenen Krankheiten. Vor Kurzem wurde einigen Patientinnen und Patienten ihre symptomlindernde Therapie entzogen, weil eine bisher als ursächlich angesehene Genvariante neu als „gutartig“ eingestuft wurde. Seitdem protestieren sie. Für sie steht fest: Die Entscheidung fiel aufgrund einseitiger Interpretation widersprüchlicher Daten.

Die Patientin leidet an einer Form der seltenen Krankheit Morbus Fabry. Seit ihrer Kindheit muss sie Symptome wie massiven Magen-Darm-Beschwerden, Gewichtsabnahme bis hin zur Magersucht und schwere neuropathische Schmerzen erdulden. Doch mit Migalastat, dem Wirkstoff des Medikaments Galafold, bekam sie diese Symptome, die ihre Lebensqualität sehr beeinträchtigten, einigermaßen in den Griff. Im Frühjahr jedoch erklärte ihr Arzt plötzlich, die bei ihr diagnostizierte genetische Variante im Gen für das Enzym α-Galaktosidase A (GLA) werde neuerdings nicht mehr als krankheitsverursachend eingestuft. Daher könne er ihr Galafold nicht mehr verschreiben. Ohne das Medikament kamen ihre Symptome kurz darauf wieder zurück. Und nicht nur bei ihr, viele weitere Patientinnen und Patienten mussten die gleiche Erfahrung machen. Was aber führte im Hintergrund zu dieser Entwicklung?

Symbolbild: Blütenblätter im Macht-krank-macht-nicht-krank-Spiel
Foto: AdobeStock / Siam

In Deutschland sind nach Angaben der Morbus Fabry Selbsthilfegruppe e. V. etwa 800 Patientinnen und Patienten registriert. Die Erkrankung tritt mit einer geschätzten Wahrscheinlichkeit von eins zu 40.000 auf. Damit zählt sie zu den sogenannten „Seltenen Erkrankungen“. Diese dürfen laut EU-Definition bei maximal fünf von 10.000 Personen vorkommen, ansonsten gelten sie nicht als selten.

Typische und untypische Form

Ursache von Morbus Fabry ist der Ausfall des Enzyms GLA. Es hydrolysiert die Verbindung der endständigen α-Galaktose von Globotriaosylceramiden (Gb3). Fehlt das Enzym, können die zu den Glykosphingolipiden gehörenden Gb3-Moleküle nicht abgebaut werden und reichern sich in den Lysosomen an – daher die Eingruppierung als lysosomale Speicherkrankheit. Zur Diagnose gehören neben der Anamnese phänotypischer Symptome die Überprüfung der Enzymaktivität wie auch der Konzentration an Gb3 und/oder seines Derivats Lyso-Gb3. Außerdem sucht man nach Mutationen im GLA-Gen.

Morbus Fabry kommt in zwei Ausprägungen vor: der typischen und der untypischen Form. Die typische Form zeichnet sich durch den mehr oder weniger vollständigen Ausfall des Enzyms GLA aus. Die Symptome reichen von brennenden Schmerzen, Magen-Darm-Beschwerden, Hornhauttrübung, vermindertem oder ausbleibendem Schwitzen bis hin zu lebensbedrohlichen Schäden an Herz, Nieren und Gehirn. Die betroffenen Patientinnen und Patienten sind auf eine Enzymersatz-Therapie angewiesen. Allerdings hilft sie nicht in jedem Fall.

Betroffene mit einer untypischen Form des Morbus Fabry – wie die oben geschilderte Patientin – haben in der Regel keine Beeinträchtigung der Herz- und Nierenfunktionen, aber viele andere Symptome. Allerdings akkumulieren nicht alle dieser Patienten Gb3, und vielfach ist die Aktivität von GLA auch nur mäßig beeinträchtigt. Das liegt daran, dass in solchen Fällen die Enzymaktivität nicht komplett verloren gegangen, sondern nur beeinträchtigt ist.

Die zugrunde liegenden genetischen GLA-Varianten sind meist Missense-Mutationen. Etwa 40 Prozent aller bekannten Missense-Mutationen im GLA-Gen resultieren laut Schätzungen in leichten biochemischen Einbußen der Enzymaktivität. In solchen Fällen können Chaperone das angeschlagene Enzym dabei unterstützen, sich korrekt zu falten, sodass es seine katalytische Funktion besser ausüben kann.

Diagnose über Genanalyse

Als natürliches Chaperon für GLA wirkt der Zucker α-Galaktose. Diese Erkenntnis führte letztlich zur Entwicklung eines synthetischen Chaperons namens Migalastat (Nat. Chem. 5: 112-15; Chem. Biol. 18: 1521-26). Migalastat ist ein Galaktose-Analogon, das das Enzym bei neutralem pH-Wert stabilisiert – was wichtig ist, denn im endoplasmatischen Retikulum, wo das Enzym gefaltet wird, ist der pH-Wert neutral. Allerdings bindet es auch im sauren Lysosom an das Enzym und inhibiert es dadurch. Bei der Therapie muss man deshalb darauf achten, dass die Konzentration des Wirkstoffs unterhalb der inhibitorischen Schwelle bleibt.

Im Jahr 2016 wurde Migalastat schließlich von der EU zur Behandlung bestimmter Morbus-Fabry-Formen mit exakt definierten GLA-Varianten zugelassen.

Weil Morbus Fabry sich mit derart vielen verschiedenen Symptomen in unterschiedlicher Ausprägung manifestiert, wird die Krankheit oft erst spät korrekt diagnostiziert. Dies gilt insbesondere für Patienten mit der untypischen Form der Erkrankung. Häufig bringt erst die genetische Analyse die Wahrheit ans Licht. Über tausend Varianten des GLA-Gens sind aktuell beschrieben, von denen viele auch in der gesunden Bevölkerung häufig vorkommen.

Die Frage ist nun: Welche Varianten sind pathogene Mutationen, und welche Varianten stellen lediglich neutrale Einzelnukleotid-Polymorphismen (SNPs) dar? Entsprechend werden die Varianten in fünf Klassen eingeteilt: in benigne, wahrscheinlich benigne, pathogene, wahrscheinlich pathogene sowie in die Klasse „Variante mit unklarer klinischer Signifikanz” (VUS).

Eine Gendiagnostik ist besonders bei Frauen wichtig, denn heterozygote, symptomatische Frauen können eine fast normale Enzymaktivität aufweisen. Der Grund dafür ist vermutlich, dass das Gen auf dem X-Chromosom liegt. Die Inaktivierung des zweiten X-Chromosoms bei Frauen erfolgt zufällig und kann von Zelle zu Zelle unterschiedlich sein. „Daher schließt eine normale Enzymaktivitat bei der Frau das Vorliegen eines Morbus Fabry nicht aus”, heißt es in der seit Mitte 2022 gültigen Leitlinie 030-134 der Deutschen Gesellschaft für Neurologie zur Behandlung der Erkrankung.

Schachtel des Morbus-Fabry-Medikaments Galafold
Morbus-Fabry-Erkrankte, denen das Medikament bislang half, bekommen es nun nicht mehr: Galafold mit Wirkstoff Migalastat. Foto: Amicus Therapeutics GmbH

Gute oder böse Variante?

Ein heftiger Streit tobt nun aktuell um die Bewertung der Variante p.D313Y des GLA-Gens, die auch bei der eingangs beschriebenen Patientin gefunden wurde. Quer durch Wissenschaft, Medizin, Diagnostik und Patientenschaft ist man uneins, ob diese Variante die Symptome der Betroffenen tatsächlich verursacht oder ob die Gründe dafür an ganz anderer Stelle zu suchen sind.

Viele Morbus-Fabry-Experten halten die Variante p.D313Y für gutartig. Sie argumentieren, dass die Betroffenen oft eine ausreichend hohe Enzymaktivität haben, dass man bei ihnen nicht immer eine Gb3-Speicherung findet und dass diese Variante außerdem in der gesunden Normalbevölkerung sehr häufig vorkommt. Die Prävalenz von p.D313Y liegt um die 0,3 Prozent. Würden alle diese Menschen mit Morbus Fabry diagnostiziert, wäre es keine seltene Erkrankung mehr. Was unter anderem auch zur Folge hätte, dass die Medikamente zur Behandlung der Erkrankung nicht mehr unter die günstigen Rahmenbedingungen der Orphan-Drug-Verordnung der EU fallen würden.

Mal diese, mal jene Resultate

Andere – ebenfalls nicht wenige – Morbus-Fabry-Experten sind gegenteiliger Meinung. Eine Meta-Analyse der Beschreibung von 211 Fällen mit p.D313Y ergab, dass 27 Prozent eine Enzymdefizienz und 16 Prozent eine Gb3-Anreicherung aufwiesen; zudem kam diese Variante in symptomatischen Patienten häufiger vor als bei Gesunden (Neurology 99: 42188-200).

An dieser Stelle ließen sich noch viele weitere Originalpublikationen und Meta-Analysen auflisten, die mal diese, mal jene Schlussfolgerung ziehen. Schauen wir uns wenigstens ein paar davon an, die für eine Beteiligung von p.D313Y an der Erkrankung sprechen:

»Symptome:

Schwere Nieren- und Herzprobleme treten bei p.D313Y-Patienten, so wird übereinstimmend berichtet, meist nicht auf. Andererseits wurde gerade ein Mann mit dieser genetischen Variante beschrieben, der ebenso schwere Symptome hat wie Patienten mit klassischem Morbus Fabry (Eur. Heart J. Case Rep., doi.org/kttc).

Ob diese Variante das Gehirn schädigt, ist auch umstritten. Die oben zitierte Meta-Analyse kam allerdings zu dem Schluss, dass 58 Prozent der p.D313Y-Träger deutliche Morbus-Fabry-typische neurologische Symptome haben. Das bestätigen auch Ärzte der Unikliniken in Heidelberg und Hamburg-Eppendorf, die Veränderungen an den Spinalganglien feststellten (Clin. Genet. 92: 528-33). Andere Analysen endeten mit gegenteiligen Ergebnissen.

» Enzymaktivität:

In-vitro-Tests mit rekombinantem Enzym zeigten für die p.D313Y-Variante eine reduzierte Enzymaktivität. Verglichen mit der Wildtyp-Aktivität betrug sie je nach Studie zwischen 60 Prozent (Human Mut. 22: 486-92) und 76 Prozent (Mol. Gen. Metabol. 80: 307-14). Ob diese Restaktivität für ein gesundes Dasein ausreicht, ist unbekannt. In einer anderen Analyse zeigte die p.D313Y-Variante nur 25 Prozent der Wildtyp-Aktivtät. Durch Migalastat konnte sie auf 50 Prozent angehoben werden (Mol. Gen. Metabol. 127: 74-85).

» Gb3-Speicherung:

Die Anreicherung von Gb3 und seiner acetylierten Form Lyso-Gb3 soll zu einem Anstieg proentzündlicher und Fibrose fördernder Cytokine führen und die Immunreaktion aktivieren. Gleichfalls soll es zur Störung der Leukozyten-Funktion kommen, die viele Organe betreffen kann (Mol. Genet. Metab. 122: 19-27). Doch aus der Forschung kommen Zweifel daran.

Wieder andere spekulieren, eine Gb3-Ansammlung alleine könne nicht die beobachteten Herz- und Nierenprobleme der typischen Morbus-Fabry-Form erklären. Demzufolge könnten sekundäre biochemische Prozesse beteiligt sein, auch bei der untypischen Form (J. Clin. Med. 12: 2063). Diskutiert werden beispielsweise oxidativer Stress, beeinträchtigter Energiemetabolismus, Störungen der Autophagie und des zellulären Transports. Bewiesen ist davon jedoch nichts.

Widersprüchliche Beurteilungen

Manchmal findet man widersprüchliche Fallbeschreibungen sogar innerhalb ein und derselben Publikation. So verkündet ein Artikel in BMJ Open (7: e017098), dass die Erkrankung bei fünf Patienten mit p.D313Y „definitiv diagnostiziert” wurde, während acht p.D313Y-Träger zwar Symptome hätten, aber die Diagnosekriterien nicht erfüllten, und zwei weitere p.D313Y-Träger vollständig gesund erschienen. Wie kann das sein, fragt man sich da? Sind vielleicht doch bislang unbekannte Mechanismen am Werk, die aus einer womöglich harmlosen Variante eine schwere Erkrankung machen?

In der ClinVar-Datenbank, die genomische Varianten aller möglichen genetischen Erkrankungen sammelt und bewertet, wird der p.D313Y-Variante in der Version vom 29. September 2022 Folgendes beschieden: „Conflicting interpretations of pathogenicity; Uncertain significance (3); Benign (6); Likely benign (13).“

Warum also streitet man über die Pathogenität von p.D313Y? Und warum schreiben wir hier darüber? Weil in Deutschland seit etwa Mitte des Jahres Patientinnen und Patienten mit dieser Genvariante von der Morbus-Fabry-Therapie ausgeschlossen werden – darunter auch die eingangs beschriebene Patientin. Enzymersatz- und Migalastat-Therapie wird ihnen nicht mehr verordnet.

Kastrierte Auskünfte

Zum Hintergrund: Im März 2023 informierte die in Rostock ansässige Gendiagnostikfirma Centogene GmbH die Ärzteschaft über ihre Entscheidung, dass sie p.D313Y als gutartig einstufe. Dies gab sie auf einem Online Advisory Board Meeting bekannt, das die Pharmafirma Takeda organisiert hatte. Takeda stellt eines von drei am Markt befindlichen Enzymersatzprodukten her. Kritiker der Veranstaltung sagen, bei dieser Entscheidung seien nicht alle Daten aus allen Publikationen zu dieser Variante berücksichtigt worden.

Tatsächlich gibt Centogene den behandelnden Ärztinnen und Ärzten schon seit 2020 nicht mehr bekannt, wenn sie die p.D313Y-Variante in einer eingesandten Probe findet – weshalb der Arzt dann annehmen muss, dass die betreffende Person an einer anderen Erkrankung leidet. „Allerdings sind wir auf ärztliche Nachfrage jederzeit bereit, über das Vorliegen oder Nicht-Vorliegen dieser Variante Auskunft zu geben”, teilt Centogene in einer schriftlichen Stellungnahme mit. Doch woher sollen Arzt oder Ärztin wissen, dass sie besser nachfragen sollten?

Regress-Drohung?

Bei ihrer Einstufung von p.D313Y als „gutartig“ beruft sich Centogene auf Kriterien des American College of Medicinal Genetics (ACMG). In Zusammenarbeit mit der Association of Molecular Pathology (AMP) stellte die US-Fachgesellschaft Richtlinien auf, um genetische Varianten von Krankheitsgenen unabhängig von spezifischen Erkrankungen zu klassifizieren. Centogene berichtet, man habe diese Parameter auf p.D313Y im GLA-Gen angewandt und diese Variante daraufhin als gutartig bewertet. Betroffene kommen unter Verwendung eben dieser Kriterien jedoch zum gegenteiligen Schluss. Obendrein bemängeln sie, dass die ACMG-Kriterien seit Jahren zunehmend enger interpretiert würden.

Patienten berichten weiterhin, dass Centogene im Nachgang zu der Takeda-Veranstaltung die behandelnden Ärzte warnte, Krankenkassen könnten sie in Regress nehmen, wenn sie weiterhin Morbus-Fabry-Erkrankten mit p.D313Y-Diagnose eine Therapie verschrieben. Centogene widerspricht dieser Darstellung: „Wir sind nicht berechtigt, Therapien und Behandlungsoptionen zu erörtern; dies fällt immer in den Zuständigkeitsbereich des behandelnden Arztes.”

Seit April dieses Jahres wurden jedenfalls etliche p.D313Y-Patientinnen und -Patienten aus der Therapie genommen, sagen Vertreter der Morbus Fabry Selbsthilfegruppe e. V. Beispielsweise schrieb eine Ärztin an ihre Patientinnen und Patienten mit p.D313Y-Variante (der Brief liegt LJ vor): „Auf dieser Grundlage ist die Argumentation für eine medikamentöse Behandlung eines M. Fabry nicht mehr möglich und kann vor den Krankenkassen nicht gerechtfertigt werden.” Pikanterweise ist diese Ärztin Co-Autorin der oben genannten Studie, in der typische neuronale Veränderungen gerade bei solchen Morbus-Fabry-Erkrankten beschrieben wurden (Clin. Genet. 92: 528-33).

Die drängende Frage, die sich nun stellt: Ist es medizinethisch vertretbar, diesen Patientinnen und -Patienten eine Morbus-Fabry-spezifische Therapie auf der Basis eines Gentests vorzuenthalten, dessen Bewertung umstritten ist – und zwar insbesondere, da die bisherige Therapie die Symptome doch linderte?

Ärzte stellen sich taub

Rein rechtlich können Morbus-Fabry Patientinnen und -Patienten mit der Variante p.D313Y auf eine Behandlung zumindest mit Migalastat bestehen. Denn nach wie vor erlaubt die Europäische Arzneimittel-Agentur (EMA) explizit deren Behandlung.

Also müsse das Chaperon Migalastat solchen Personen auch weiter verordnet werden, sagt dazu eine erboste Betroffene, bei der sich nach Absetzen des Medikaments die Symptome gleich wieder einstellten. Eigentlich gebe es da überhaupt keinen Diskussionsspielraum. Bei den meisten Ärzten stoße man damit jedoch auf taube Ohren.