Editorial

Was tun mit den Namenlosen?
Mikrobielle Taxonomie

Mario Rembold


(15.05.2023) Traditionell benötigt man einen Mikroorganismus in Reinkultur, damit dieser als eigene Art anerkannt wird. Bei SeqCode reicht die DNA-Sequenz in hoher Qualität.

Wer ein neues Lebewesen als Erster oder Erste beschreibt, der hat auch das Privileg der Namensgebung. Wenn die Entdeckerin das so will, dann tauft sie ein Bakterium halt auf den Namen Myxococcus llanfairpwllgwyngyllgogerychwyrndrobwllllantysiliogogogochensis (Genome Biol Evol 12(12): 2289-302). Llanfairpwllgwyngyllgogerychwyrndrobwllllantysiliogogogoch ist übrigens ein Ort in Wales – vielleicht nützt Ihnen dieses Wissen einmal bei „Stadt, Land, Fluss“ oder „Wer wird Millionär“.

Eigentlich sollten Namen für Bakterien und Archaeen den Regeln und Empfehlungen rund um den International Code of Nomenclature of Prokaryotes (ICNP) folgen (Int J Syst Evol Microbiol 69(1A): S1-S111), und eine dieser Empfehlungen lautet: „Avoid names or epithets that are very long or difficult to pronounce“. Verbindlich ist dieser Ratschlag aber nicht – falls Sie also auch eine Stadt mit unaussprechlichem Namen kennen, der Sie eine Bakterienart widmen wollen, dürfen Sie das tun.

Handabdruck auf Nährmedium mit Bakterienkulturen
Diese „Hand-Mikroben“ lassen sich ja vielleicht noch in Reinkultur heranziehen. Aber was macht man mit den vielen „Unsichtbaren“? Foto: Tasha Sturm/Cabrillo College/asm.org

Billionen unentdeckt

Bei den Mikroorganismen gibt es aber eine ganz andere Hürde, die Sie für einen amtlichen Namen überwinden müssen: Der Prokaryot muss als Reinkultur in mindestens zwei offiziellen Sammlungen hinterlegt sein, um als Spezies anerkannt zu werden. Und das klingt leichter gesagt als getan, denn die Evolution hat Archaeen und Bakterien nicht auf ein schnelles Wachstum unter Laborbedingungen optimiert, sondern vielmehr sind E. coli und Co. einfach die winzige Spitze des mikrobiellen Eisbergs, die zufälligerweise auf simplen Medien gedeiht. Zu einigen marinen Mikroorganismen kennt man Reproduktionszeiten von Wochen bis Monaten, von den meisten unserer zellkernlosen Mitgeschöpfe haben wir nicht die geringste Ahnung, welche Kulturbedingungen sie bräuchten, um zumindest nicht zu sterben – und dann hätte man noch längst keine wachsende Reinkultur.

Aharon Oren von der Hebrew University of Jerusalem hat im April einige Zahlen, Daten und Fakten zur Neubeschreibung von Prokaryoten zusammengetragen (Can J Microbiol 69(4): 151-57). Demnach seien zwischen 1990 und 1994 jährlich im Schnitt 150 neue Prokaryoten-Spezies benannt worden. In der zweiten Hälfte der 1990er-Jahre wuchs die Zahl auf 250 pro Jahr. Zwischen 2017 und 2021 lag die Jahresrate bei 950. Insgesamt gibt es etwa 23.000 kultivierte Prokaryoten-Spezies – dem stehen vermutlich eine Billion noch unbeschriebener Arten gegenüber (wohlgemerkt, wie sprechen über die deutsche Billion, also eine 10 mit 12 Nullen!).

Genetische und metagenomische Analysen spülen aber eine Flut von Sequenzdaten in die Archive, deren Qualität über die Jahre immer besser wurde. Man kennt also die Genome von Mikroorganismen, denen man vielleicht niemals als lebenden Exemplaren begegnen wird. Wie zeitgemäß ist da noch die Benennung nach dem klassischen Prinzip, wenn klar ist, dass man damit nicht einmal annähernd einen relevanten Teil der mikrobiellen Artenvielfalt je erfassen kann? Vor drei Jahren schlugen Alison Murray et al. in einem Konsensuspapier vor, auch DNA-Sequenzen als Ausgangsmaterial zur Beschreibung neuer Arten zu akzeptieren – unabhängig von deren Kultivierbarkeit (Nat Microbiol 5(8):987-994). Mehr als 60 Autoren aus aller Welt hatten mitgewirkt an dieser „Roadmap“, darunter auch Köpfe von Max-Planck- und Helmholtz-Einrichtungen in Deutschland.

SeqCode statt ICNP

Jedoch lehnte das International Committee on Systematics of Prokaryotes (ICSP), also sozusagen die Hüter des ICNP, diesen Vorschlag ab. Im Paper gab es aber auch einen Plan B: Ein eigenes Nomenklatursystem für noch unkultivierte Mikroorganismen zu entwickeln. Die in diesem Verfahren generierten Namen sollen dabei kompatibel sein mit dem ICNP, sodass man beide Systeme in der Zukunft auch zusammenfügen könnte. Herausgekommen ist der sogenannte SeqCode, der als eine DNA-basierte Richtlinie zur Benennung von Mikroorganismen gedacht ist, denen ein ICNP-Name (noch) nicht offensteht. Grundlage hierfür ist die DNA-Sequenz (Nat Microbiol 7(10): 1702-8 & www.seqco.de).

Am Aufbau von SeqCode arbeitet auch Luis Miguel Rodríguez-Rojas von der Abteilung Mikrobiologie und dem Digital Science Center (DiSC) der Universität Innsbruck mit. Zum Beispiel war er maßgeblich verantwortlich für die Entwicklung der SeqCode-Registry. „Es gibt Organismen, über die man einiges weiß, die aber noch nie in einem Labor gewachsen sind“, stellt Rodríguez-Rojas fest. Wenn das aber eine grundlegende Bedingung dafür ist, dass man dem Kind einen unveränderlichen und einheitlichen Namen geben kann, führt das zu Problemen. „Wenn Sie auf der einen Seite jede Menge Wissen zu einem Mikroorganismus aufbauen, es andererseits aber keine festgelegte Weise gibt, wie man sich auf diesen bezieht, werden verschiedene Leute nicht wissen, dass sie über denselben Organismus sprechen.“

Porträt des Innsbrucker Mikrobiologen Luis Miguel Rodríguez-Rojas
Der Innsbrucker Mikrobiologe Luis Miguel Rodríguez-Rojas befürwortet eine DNA-basierte Bakterien-Taxonomie. Foto: Univ. Innsbruck
Prioritäten respektieren

Schon jetzt ist es möglich, jenen Prokaryoten, über die man schon Daten gesammelt hat, einen provisorischen Namen zu geben. Der sieht dann formal aus wie ein Doppelname nach Carl von Linné, nur dass das Wort Candidatus vorangestellt ist. Auch für den Candidatus-Status müssen aber einige Kriterien über die reine Sequenz hinaus erfüllt sein. Trotzdem genießt der gewählte Name keine Priorität. Sind die ICNP-Bedingungen schließlich erfüllt, muss sich der Namensgeber nicht an einer bereits vorhandenen Candidatus-Bezeichnung orientieren.

Für SeqCode ist aber solch eine Priorität vorgesehen. Der Validierungsprozess für einen neuen Namen kann über drei verschiedene Wege laufen. Idealerweise soll ein Forscher seinen Organismus registrieren, wenn er eine Publikation in einer Fachzeitschrift vorbereitet. Der Peer-Review-Prozess zum Paper läuft nun unabhängig von einer formalen Prüfung des vorgeschlagenen Namens. Der Name sollte zum Beispiel die taxonomische Stellung berücksichtigen und kongruent sein zur taxonomischen Zuordnung des Genoms. Die gelieferte Sequenz muss Qualitätsstandards einhalten und zu mindestens 90 Prozent vollständig sein. Das Material muss weniger als fünf Prozent mit Fremdsequenzen kontaminiert sein. Sind die Bedingungen erfüllt und kommt es außerdem zu einer Veröffentlichung in einem begutachteten Journal, so ist der DOI (der Digital Object Identifier) der Publikation dann maßgeblich für das Datum der Priorisierung. Ein anderer Autor könnte nun nicht mehr die Sequenz des gleichen Organismus verwenden, um einen anderen Namen festzulegen.

Drei Wege zum SeqCode

Eine zweite Möglichkeit für die SeqCode-Registrierung besteht, wenn bereits eine Publikation unter einer Candidatus-Bezeichnung existiert. Hier hat dann der provisorische Name Priorität und wird – ohne die Candidatus-Einschränkung – in die Datenbank aufgenommen. Künftig ist angedacht, dass man Manuskripte auch an Partnerjournale übermitteln kann. Im Rahmen der SeqCode-Registrierung findet dann ein integrierter Peer Review statt, und auch hier gilt das Datum des DOI als Abschluss der Namensgebung.

Die Veröffentlichung im Fachjournal ist der eigentlich relevante Teil der Validierung, erläutert Rodríguez-Rojas, denn mit Validierung sei vor allem eine „valid publication“ gemeint. „Das ist der Fall, wenn ein Name bereits in einem veröffentlichten Werk vorkommt, zum Beispiel einem Paper oder einem Buch. Und wenn dieser Name den Regeln des Nomenklatur-Codes folgt.“ Um die strengeren Bedingungen der ICNP zu erfüllen, ist speziell die Veröffentlichung im International Journal of Systematic and Evolutionary Microbiology (IJSEM) Voraussetzung. „Oder der Name muss in diesem Journal auf einer der sogenannten Validierungslisten berichtet worden sein“, ergänzt Rodríguez-Rojas.

Mit dem SeqCode ist nun zwar eine parallele Möglichkeit zur Namensgebung geschaffen, allerdings scheint die Motivation dahinter gerade nicht zu sein, in Konkurrenz zur ICNP zu treten – schließlich lässt SeqCode einen neuen Namen nur dann zu, wenn er nicht bereits anderweitig Verwendung findet und respektiert dabei auch die provisorischen Benennungen. „Wir sammeln zum Beispiel aus der Literatur Erwähnungen des Wortes ‚Candidatus’, und wir versuchen, diese dann auch mit den Genomen zu verknüpfen“, erklärt Rodríguez-Rojas. Damit verringert man das Risiko, dass jemand in SeqCode einen Namen verwendet, der schon in einer Publikation auftaucht, oder eine bereits beschriebene Sequenz erneut registriert.

Doch wann sind zwei Sequenzen überhaupt „gleich“ in dem Sinne, dass sie zur selben Spezies gezählt werden sollten? Identische Übereinstimmungen wird man ja nie haben. Bei einer Übereinstimmung von mehr als 95 Prozent zählt man zwei prokaryotische Individuen zur selben Spezies. Der Artbegriff ist natürlich leichter definierbar – etwa bei Wirbeltieren, die sich sexuell fortpflanzen (oder zumindest von Vorfahren mit sexueller Reproduktion abstammen, wenn man an einige Fische, Schlangen oder Geckos mit parthenogenetischer Fortpflanzung denkt). Sind Individuen nicht in der Lage, fertile Nachkommen zu zeugen, so gehören sie verschiedenen Arten an.

Was ist eine Art?

Rodríguez-Rojas merkt an dieser Stelle an, dass man aber auch für Prokaryoten vergleichbare Kriterien anlegen kann. „Es gibt einen horizontalen Austausch von Genmaterial, aber damit ein Organismus diese DNA auch ins eigene Genom integrieren kann, muss homologe Rekombination stattfinden. Das wiederum erfordert eine große Ähnlichkeit der Sequenzen.“ Dabei spricht Rodríguez-Rojas also nicht vom fremden Plasmid mit einer vorübergehend vorteilhaften Eigenschaft wie einer Antibiotikum-Resistenz. Solche Elemente können zwar artübergreifend die Zelle wechseln, landen aber nicht dauerhaft im Genom. Der molekulare Mechanismus der homologen Rekombination hingegen ähnelt tatsächlich der intrachromosomalen Rekombination während der Meiose eukaryotischer Zellen.

„Wir sehen eine starke Abnahme der Fähigkeit, DNA durch homologe Rekombination zu integrieren, wenn die durchschnittliche Übereinstimmung zwischen den Nucleotiden bei weniger als 95 Prozent liegt – was exakt der Wert ist, den wir in den letzten Jahren als Goldstandard für eine neue prokaryotische Spezies definiert haben.“ Rodríguez-Rojas sieht das Artkonzept, das sich beim Umgang mit Prokaryoten etabliert hat, daher nicht nur als praktikabel an, sondern auch als passend zum Artkonzept, wie man es sonst in der Biologie handhabt.

Natürlich kann man trotzdem darüber diskutieren, ob wirklich jede neu entdeckte Sequenz auch einer Spezies mit eigenem Namen zugeordnet werden muss. Bislang hatte man einen Organismus mit eigenen Augen gesehen (wenn auch nur durchs Mikroskop oder als Zellrasen oder mindestens als ein Fossil). Andererseits kann man aus hochqualitativen Sequenzdaten immerhin schließen, dass es diesen oder jenen noch unbekannten Organismus geben muss, man kann ihn sogar verwandtschaftlich einordnen. Fest steht aber, dass man zu den allermeisten neu benannten Mikroben nichts wissen wird über deren Aussehen, Ökologie und Lebensweise, sondern allenfalls Hypothesen hierzu anhand der codierten Erbinformation formulieren kann (siehe auch „Die Unkultivierbaren“ in LJ 11/2018 - Link).

Namensgenerator

Welche Namen sollte man solch einem Unbekannten dann geben? Häufig spricht der Artname ja für ein besonderes Verhalten des Lebewesens oder soll sein Aussehen beschreiben. Das wird hier nicht mehr möglich sein. Vielleicht könnte man sich am Fundort orientieren oder das Epitheton einer Person widmen? Und was macht man mit den verbleibenden Kandidaten, wenn man das Telefonbuch durch hat?

Die Qual der Wahl für einen Namen liegt ohnehin beim Entdecker, und auch künftig sind hierzu keine verbindlichen Vorgaben zu erwarten. Es könnte nur sein, dass uns entweder die Ideen ausgehen oder einfach die Zeit fehlt, jeden neu entdeckten Prokaryoten „von Hand“ zu benennen. Hier hat Rodríguez-Rojas mitgearbeitet an einem Tool, das beliebige Namen generiert, die zwar lateinisch klingen, aber frei sind von jeder Bedeutung. Die Autoren des quelloffenen Python-Scripts sind 65.000 Candidatus-Namen durchgegangen, für die es bislang nur nichtssagende Ziffernfolgen als Identifikator gab. Herausgekommen sind Namen wie „Hopelia gocarosa“, die wissenschaftlich klingen, und die man sich auch irgendwie merken kann – sogar besser als manch einen walisischen Ort!

„Wir möchten diese Namen auch in SeqCode einpflegen, aber zunächst geben wir den eigentlichen Erstbeschreibern noch Zeit, ihrer Entdeckung einen eigenen Namen zu geben“, erklärt Rodríguez-Rojas. Denn ihm ist bewusst, dass hinter einem Namen auch eine emotionale Bedeutung stehen kann, und dass es einem Erstbeschreiber vielleicht nicht egal ist, wie sein Organismus von der Community genannt wird.

Die Grundidee hinter den zufällig generierten Namen war, dass sie gerade keine Bedeutung haben sollten. Ähnlichkeiten zu existierenden Artnamen sollen vermieden werden, auch anstößige Assoziationen will man nicht forcieren. Daher greift das Tool auch auf eine Ausschlussliste zurück, um solche Silbenfolgen zu vermeiden.

Allerdings sei es gar nicht neu, Namen für Arten beliebig zu generieren. „Das hat eine lange Tradition in der biologischen Nomenklatur“, erklärt Rodríguez-Rojas, „sogar Linnaeus hat Anagramme der Namen seiner Freunde erstellt, um daraus willkürliche Namen zu generieren“. Rodríguez-Rojas ist wichtig, eine Nomenklatur nicht gegen den Widerstand von Forschern durchzusetzen – und die Freiheit der Namenswahl bleibt ja bestehen. Auch SeqCode als Möglichkeit, Arten jenseits der faktisch meist unerfüllbaren ICNP-Anforderungen zu validieren, soll mit der mikrobiologischen Community und nicht gegen diese erfolgen. „Wir haben derzeit 130 Mitglieder in unserer Gemeinschaft“, freut er sich über den Zwischenstand.