Editorial

20 Jahre Laborjournal

Neuer Turm in Babel?

Von Diethard Tautz, Plön


(11.07.2014) Publizieren und Zitieren sind die Währungen der Wissenschaft. Aber lesen wir noch, was andere schreiben? Ja, verstehen wir uns überhaupt noch?

Es hatte aber alle Welt einerlei Zunge und Sprache. — Und sie sprachen untereinander: — Wohlauf, lasst uns eine Stadt und einen Turm bauen, des Spitze bis an den Himmel reiche, dass wir uns einen Namen machen! — Da fuhr der HERR hernieder, dass er sähe die Stadt und den Turm, die die Menschenkinder bauten. Und der HERR sprach: Siehe, es ist einerlei Volk und einerlei Sprache unter ihnen allen, und haben das angefangen zu tun; sie werden nicht ablassen von allem, was sie sich vorgenommen haben zu tun. Wohlauf, lasst uns herniederfahren und ihre Sprache daselbst verwirren, dass keiner des andern Sprache verstehe!
(1. Mose, Kapitel 11 – leicht gekürzt)

Es ist jetzt wahrscheinlich gut 20 Jahre her, dass ich zuletzt eine Bibliothek besucht habe, um mir die neuesten Journals anzusehen. Lange Zeit hatte ich dafür den Freitag Nachmittag reserviert, und es war in der Tat möglich, in ein paar Stunden einige interessante Artikel zu lesen. Das verband ich meistens mit dem Gang zum Kopierer, um einige besonders interessante Artikel zu kopieren und sie in mühsam organisierten Literaturstapeln zusammen zu stellen. Einiges kam da zusammen, insbesondere wenn Doktoranden oder Postdocs, die das Labor verließen, ihre eigenen Stapel zurückließen. Es war damals schon mühsam, up-to-date zu bleiben – Es hatte aber alle Welt einerlei Zunge und Sprache. Und wo stehen wir heute?

Kürzlich prüfte ich für einen unserer letzten Reviews nach, wer ihn überhaupt zitiert hatte – zumal wir darin auch Ideen vorgestellt hatten, von denen man erwarten konnte, dass sie von anderen aufgenommen, kritisiert, oder weiterentwickelt würden. Also habe ich mir die jeweiligen Artikel runtergeladen und nachgesehen, in welchem Zusammenhang sie uns zitierten.

Hätte ich es bloß nicht gemacht! In der Mehrzahl der Fälle wurden wir in einem Zusammenhang zitiert, der nahelegte, dass die Autoren außer dem Titel nichts von dem Paper gelesen haben konnten. Und ein paar Stichproben zeigten, dass es bei anderen unserer Arbeiten nicht viel besser war.

Nun, außer dem verletzten Ego, dass sich offenbar nicht viele dafür interessieren, was man in mühsamer Kleinarbeit entwickelt und oft im Kampf gegen die Reviewer in seiner Diskussion geschrieben hat, kann es mir ja egal sein, warum mich jemand zitiert. Hauptsache, man wird zitiert – denn das ist ja inzwischen die universelle Währung des Wissenschaftssystems. Und die muss gemehrt werden. Der Turm muss größer werden – Dass wir uns einen Namen machen!

Also zurück zur Tagesordnung. Wenn man durchschnittlich alle paar Wochen ein neues Manuskript rausschicken will, dann kann man sich nicht mit Vergangenem aufhalten. Datenanalyse und Interpretation stehen im Vordergrund. Methodenteil und Resultatekapitel müssen geschrieben werden, überzeugende Abbildungen und Tabellen müssen generiert werden. Dazu dann eine passende Einleitung, am Ende ein paar Paper, die man gut kennt und auf jeden Fall zitieren muss – dann aber auch aufgefüllt mit einigen, die erst in letzter Zeit erschienen sind.

Da man ja nicht mehr regelmäßig Journals liest, ist das eine retrospektive Suche – aber die ist ja heute so einfach wie nie. Ein paar passende Stichworte – und wenn der Titel passt, dann ab in den Citation Manager. Das gleiche auch noch für die Diskussion – und zack, mit einem Knopfdruck ist die Literaturliste fertig. Hmm, interessant – über hundert Paper, die ich da zitiere. Und wie viele davon habe ich gelesen? Wenn ich mich mit jedem nur eine halbe Stunde auseinandergesetzt hätte, hätte ich eine ganze Woche nur lesen müssen. Das könnte ich mir zeitlich gar nicht leisten!

Vor zwanzig Jahren haben wir von der sich damals abzeichnenden, schönen neuen Welt geträumt: kein Ärger mehr mit fehlenden Heften, kaputten Kopierern oder ungünstigen Bibliothekszeiten. Alle Literatur auf Knopfdruck abrufbar, nach beliebigen Stichworten durchsuchbar. Kein mühsames Abtippen von Titeln und Autorennamen, keine Stapel von Kopien mehr, die den Schreibtisch blockieren und in denen man ohnehin nicht mehr das findet, was man gesucht hat. Endlich würde man sich voll auf die Wissenschaft konzentrieren können.

Ist das eingetroffen? Ersteres ja. Aber ist die Wissenschaft jetzt einfacher geworden? Die elektronische Revolution hat alles so effizient gemacht, dass man viel mehr produzieren kann. Unsere Kapazität zu rezipieren ist hingegen nicht gewachsen. Dabei geht es in der Wissenschaft doch darum, auf Erkenntnissen aufzubauen, daraus neue Fragen zu entwickeln und darauf Antworten zu geben. Neue Antworten gibt es heutzutage reichlich – der heutige Stand der Datenproduktion in den Biowissenschaften ist atemberaubend und weiterhin in steilem Wachstum. Und, ja, Fragen werden auch noch gestellt. Aber das Aufbauen auf Erkenntnissen anderer kommt zunehmend kürzer – denn wir lesen sie ja gar nicht mehr.

Immerhin geben sich Autoren in der Regel noch die Mühe, Erkenntnisse zu entwickeln. Aber selbst das wird zunehmend zum Ritual. Ein gutes Paper muss als Story verpackt werden – mit einem möglichst klaren roten Faden und einer neuen Einsicht am Ende. Und natürlich muss der Titel ausreichend sexy sein, damit es das Paper auch in den Citation Manager schafft. Dass das meist weder der Planung, noch dem Ablauf der Experimente entspricht, ist dabei sekundär. Irrungen und Wirrungen will man weder aufschreiben noch lesen.

Ach ja – lesen? Doch, das passiert noch – meist aber nur bei den Gutachtern. Die müssen überzeugt werden, die müssen die Story „glauben“, Ecken und Kanten bleiben tunlichst außen vor. Ist ja auch egal, denn wenn es publiziert ist, liest es ja doch keiner mehr. Wichtig ist nur – Dass er sähe die Stadt und den Turm, die die Menschenkinder bauten.

Es sei denn es fällt einem Literature Club zum Opfer. Dann wird es auseinandergenommen und es bleibt oft kein gutes Haar dran. Manch anderes dagegen erscheint in einem Blog und erfährt dort ungeschminkte Kritik. Da findet noch aktive Wissenschaft statt. Aber in der offiziell publizierten Wissenschaft ist Kritik in der Regel verpönt. Selbst wenn Insider die Schwächen eines Papers kennen, passiert es fast nie, dass man direkte Antworten auf problematische Rückschlüsse liest. Wer nicht zum Insider-Zirkel gehört, kann sich dann keinen Reim mehr darauf machen was richtig und was falsch ist. Das heißt, selbst wer liest, hat nicht unbedingt die Chance, die Zusammenhänge zu verstehen. Immerhin gibt es ja eben diese Blogs – aber wer hat denn die Zeit, die zu lesen? Am wenigsten wohl die aktiven Wissenschaftler. Die müssen ja weiter ihren Turm bauen – Sie werden nicht ablassen von allem, was sie sich vorgenommen haben zu tun.

Eine Überzeichnung? Aber ja doch! Natürlich haben wir auch neue Erkenntnisse, große und kleine, und Lehrbücher mussten in den letzten Jahren schon mehrfach umgeschrieben werden. Noch funktioniert das System. Aber wie sieht es in 20 Jahren aus? Wie hoch kann der Turm noch wachsen, bevor uns die gegenseitige Sprachlosigkeit ereilt? Bei den derzeitigen Wachstumsraten von acht bis neun Prozent ist der jährliche Output dann mindestens fünfmal so hoch. Wir können aber den jetzigen Output schon nicht mehr lesen. Gibt es dann die Babylonische Sprachverwirrung? Oder wird alles Geschriebene so belanglos, dass es unwichtig geworden ist, was man schreibt?

Die Lösung ist wohlfeil: weniger, aber dafür besser publizieren! Wie oft habe ich das schon in den letzten 20 Jahren gehört? Allen ist es bewusst, aber keiner hält sich daran. Denn parallel zur Wissenschaft hat sich auch die Begutachtung der Wissenschaftler-Leistungen explosiv entwickelt. Und in unserer Rolle als Gutachter für Leistungsvergleiche sind wir mit dem Lesen inzwischen genauso überfordert wie als Wissenschaftler. Ich möchte behaupten, dass kein Gutachter mehr bei der Bewertung eines fortgeschrittenen Wissenschaftlers alle dessen Publikationen liest – obwohl sie per Knopfdruck zugänglich sind! Zahlen zu Publikationen und Impact-Faktoren lassen sich hingegen leicht addieren und evaluieren. Auch das Laborjournal macht das Zahlenspiel in seinen Publikationsanalysen mit – weil wir es alle so wollen und mitspielen! Als ich Diplomarbeit gemacht habe (und das ist schon mehr als 20 Jahre her), da gab es noch die Devise, dass eine gute Arbeitsgruppe ein gutes Paper pro Jahr haben sollte. Schöne, selige Zeit, in der noch gelesen wurde. Geht heute nicht mehr – zum Begutachten brauchen wir Zahlen, und die entstehen nun mal vor allem aus der Masse, weniger aus der Klasse.

Die Sucht nach immer mehr Publikationen zeitigt zudem interessante Blüten. Mit der „Open Access“-Bewegung wird Geschriebenes nicht mehr gedruckt und damit sehr billig zu verteilen. Nur ein gewisser Basis-Service ist dafür nötig, den der Autor willfährig zahlt. Dementsprechend gibt es eine zunehmende Zahl an „Verlagen“, die diesen Service anbieten – wobei der früher übliche, stringente Kontrollschritt der Begutachtung mehr und mehr wegfällt, da das Geschäftsmodell davon profitiert, möglichst viel online zu setzen. Ob das nun Unsinn ist, zählt nichts mehr, da es ja keine Kunden mehr finden muss – bezahlt ist es ja schon. „Predatory Publishing“ heißt das inzwischen – es breitet sich als Parasit des Systems aus, und selbst angesehene Verlage spielen da inzwischen gnadenlos mit. Wem ist denn schon klar, dass zum Beispiel Nature Communications als reines Geschäftsmodell gegründet wurde, um die vielen abgelehnten Nature-Manuskripte nutzbringend aufzufangen? Auch viele andere Journals haben inzwischen solche Outlets gegründet.

Wohlauf, lasst uns herniederfahren und ihre Sprache daselbst verwirre – Ja, auch in der Verwirrung sind wir schon angekommen. Es geht um die „Big Data“. Ich musste kürzlich so ein „Big Data“-Paper für ein angesehenes Journal begutachten. Es hatte 60 Autoren und präsentierte ein Feuerwerk an intelligenten Auswertungen, Statistiken und Modellierungen. Etwas seltsam war der modulare Aufbau. Die einzelnen Teile des Papers waren offensichtlich von unterschiedlichen Autoren geschrieben worden, jeder ein Spezialist für sein Feld mit einem eigenen Sprachstil und wenig Bezug zu den anderen Modulen. An ein paar „Kleinigkeiten“ wie fehlenden Übergängen und unvollständigen Sätzen war zu erkennen, dass die meisten der Autoren offensichtlich ihr eigenes Paper nicht vollständig gelesen haben konnten – denn zumindest einem von den 60 hätte so etwas doch auffallen müssen. Haben auch Autoren gar keine Zeit mehr zum Lesen oder ist das der Beginn der Sprachverwirrung? Auch als Gutachter konnte ich nur einen Teil kompetent begutachten, den Rest nur auf Plausibilität prüfen. Und ich vermute, dass es den anderen Gutachtern ebenso ging. Natürlich wurde es publiziert und ich darf annehmen, dass es so gut wie keinen einzelnen Leser mehr gibt, der wirklich alles davon versteht. Wenn es so weiter geht, dann sind wir in 20 Jahren nahe an dem Punkt, – Dass keiner des andern Sprache verstehe!

Mir scheint, wir brauchen keinen HERRn, der herabsteigt und uns verwirrt – wir machen das schon selber! Welche Erkenntnisse ziehen wir daraus? Ach, ist doch egal – die würde ja eh niemand lesen!

Diethard Tautz ist Direktor am Max-Planck-Institut für Evolutionsbiologie in Plön.


Letzte Änderungen: 11.07.2014