Editorial

20 Jahre Laborjournal

Die Wissenschaft und die Öffentlichkeit

Von Hannelore Daniel, München


(11.07.2014) Brauchen wir eine Art Kodex, der die Standards der Kommunikation von Forschung in die Gesellschaft sicherstellt?

Es ist erfreulich, dass Wissenschaft, Forschung und Entwicklung heute so prominent im Alltag des Bürgers vertreten sind. Kaum ein Verlag ohne „Wissens-Magazin”, keine Zeitung ohne Wissenschaftsseite, kein Fernsehkanal ohne Wissens-Sendung, kein Online-Portal ohne tägliche Highlights aus der Wissenschaft. Befeuert wird das System von den Presseabteilungen der Universitäten, Forschungszentren, Fördereinrichtungen und Verlage. Als Forscher muss man daher heute neben guten Publikationen in angesehenen Zeitschriften auch gleich noch für die notwendigen Schlagzeilen sorgen. Wissenschaft hat also längst den Elfenbeinturm verlassen und erfüllt in vielfacher Weise ihre „Bringschuld“ gegenüber dem Geldgeber, dem Bürger, der Gesellschaft.

Einen Teil meiner Bringschuld erfülle ich in etwa 20 öffentlichen Vorträgen pro Jahr, die ich meist über alltagsnahe Themen für verschiedene Zielgruppen halte. Dabei sind die Vorlesungen an der Kinderuni zugleich die vergnüglichsten, wenngleich auch anstrengendsten Veranstaltungen. Mehrere hundert Kinder über 45 Minuten zu unterhalten und ihre Aufmerksamkeit zu erhalten, ist stets eine neue Herausforderung. Rotary, Lions, Kaufmannsgilde, CSU-, CDU-, Grünen- oder SPD-Ortsverband, studentische Verbindung, Bundesrichter, Bundeswehr-Rekruten, Lehrer, Verbrauchergruppen, Landfrauen usw. – kaum eine Gesellschaftsgruppe, die ich über die Jahre nicht mit einem Vortrag zum Themenfeld „Lebensmittel, Ernährung und Gesundheit“ bedient hätte. Und dies meist nach einem 3-Gängemenü in edlem Ambiente oder in rustikaler bayerischer Gaststube zwischen Maß und Schweinshaxe.

Forschung in dieser Unmittelbarkeit in die Öffentlichkeit zu bringen, macht Spaß. Auch mal in Ruhe erklären zu können, warum es nicht trivial ist, belastbare wissenschaftliche Belege zu erhalten, welche Art von Studien es dafür braucht und warum die Ergebnisse häufig uneindeutig sind, tut gut. Bei diesen Auftritten sind Offenheit, Ehrlichkeit und Authentizität wichtig, denn Vertrauen ist die tragende Säule der Beziehung zwischen Wissenschaft und Öffentlichkeit.

Es gibt ja kaum einen anderen Lebensbereich, der so im öffentlichen Interesse steht wie „Essen und Ernährung”. Dieser Sektor betrifft jeden, unabhängig vom Bildungsstand und der Affinität zur Wissenschaft. Entsprechend hoch ist die Nachfrage nach neuen wissenschaftlichen Erkenntnissen. Diese Nachfrage wird bedient: multimedial und aus schier unerschöpflichen Quellen wird eine Kakophonie der „wissenschaftlichen Erkenntnisse” erzeugt. Selbst Ernährungsexperten gelingt es nicht immer, den Kern der Botschaft zu erkennen und letztlich auch ihre Bedeutung einzuschätzen.

Recherchen zu den Neuigkeiten des Wissenschaftsressorts zur gefälligen Kommentierung für Journalisten sind auf diese Weise zur tagesfüllenden Beschäftigung geworden. Diese werden im Sinne einer Auskunftspflicht von mir erwartet – und gelegentlich explizit eingefordert. Schließlich werde ich ja aus Steuermitteln vergütet und habe damit der Öffentlichkeit über die Medien zu Dienste zu sein.

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Auch wenn ich dies weiterhin tue, wächst dabei mein Unbehagen, da ich eigentlich nicht an der fortschreitenden Verunsicherung des Konsumenten „durch die Wissenschaft” teilhaben möchte. Das Ergebnis dieser medialen Überversorgung erlebe ich nämlich auch. Anrufe, Briefe und Mails von orientierungslosen Konsumenten, auch bestens gebildeten Menschen, die beim Versuch der Interpretation der neuen wissenschaftlichen Befunde für ihr eigenes Leben scheitern.

Hier stellt sich meines Erachtens die Frage nach der Ethik der Wissenschaftskommunikation. Muss denn jeder noch so bedeutungslose Befund unter dem Label „Die Wissenschaft hat festgestellt” verbrauchergerecht vermarktet werden? Für das Feld „Lebensmittel, Ernährung und Gesundheit“ halte ich dies mittlerweile für kontraproduktiv. Was hat der Konsument davon? Entweder er wird zum Ignoranten und misst der neuen Information keinerlei Bedeutung zu; oder er wird zum Orthorektiker, der krankhaft danach strebt, sich möglichst gesund zu ernähren und sich dann in seinem Unglück ergeht.

Der gegenläufige Trend, nämlich den Wert und die Bedeutung jedes wissenschaftlichen Befundes zu hinterfragen, scheint aber ebenso geeignet, die Wissenschaftsseiten zu füllen. So wird die Ernährungsforschung zum Ziel des Science Bashing. Dies gilt nicht nur für selbsternannte Experten, die wissenschaftliche Studien in eigener Überheblichkeit hinterfragen, sondern auch für etablierte Wissenschaftsjournalisten. So lese ich über meine Disziplin in einem Heft von Spiegel Wissen: „Ernährungswissenschaft ist Rätselraten auf niedrigem Niveau, und entsprechend widersprüchlich sind alle Befunde“. Oder ich erfahre aus dem Mund des Wissenschaftsredakteurs einer namhaften süddeutschen Tageszeitung, dass die Ernährungsforschung eine „dünne, wenn nicht gar wertlose Disziplin” sei.

Nun habe ich selbst mal meine Disziplin als „unterkritisch“ bezeichnet, da sie mit nur wenigen Wissenschaftlern die vielfältigen Herausforderungen und Fragen, die sich ihr stellen – beziehungsweise, die Öffentlichkeit, Politik und Medien ihr zur Beantwortung übergeben –, kaum meistern kann.

Leider hat sich die Ernährungsforschung auch nie als eine Erkenntnis-stiftende Wissenschaftsdisziplin etablieren können, um eine höhere Wertschätzung in der Wissenschaftswelt zu erlangen. Vielmehr wurde sie vor etwa 50 Jahren als Versorgungswissenschaft geschaffen und wird auch immer noch so gesehen. Allerdings hat sie sich in den letzten zwei Jahrzehnten aus der Agrarwissenschaft kommend in die Lebenswissenschaften und Medizin bewegt und sich dabei auch mit eigenen wissenschaftlichen Fragen emanzipiert.

Dem Wissenschaftsrat erscheint die Ausrichtung vieler ernährungswissenschaftlicher Standorte auf die Lebenswissenschaften und Medizin aber nun zu einseitig. In einer Stellungnahme zur Evaluierung der Agrarwissenschaften moniert er, dass dadurch wichtige wissenschaftliche Fragen nicht behandelt werden und definiert nachfolgend zehn solcher Forschungsbereiche, deren Beschreibung fast immer mit „Entwicklung und Produktion …“ beginnt. Nur zweimal kommt das Wort „Forschung“ vor; nämlich die „Erforschung der Auswirkung des Klimawandels“ und „Erforschung der agrarpolitischen Rahmenbedingungen für die Lebensmittelmärkte“. Aber wem kann man es schon recht machen?

Ein besonderer Spannungsbogen kennzeichnet die Ernährungsforschung in ihrer Beziehung zur Industrie. Offen erklärt ein Wissenschaftsredakteur, dass die Ernährungsforschung ob ihrer Nähe zur Industrie ohnehin keine relevanten Erkenntnisse liefern könne. Diese Ansicht teilen auch die Mehrzahl der Konsumenten sowie diverse Repräsentanten der Politik. Ja, Forschungsergebnisse, die mit Fördermitteln der Industrie erarbeitet wurden, erbrachten in vergleichenden Studien häufiger positive, dem Sponsor gegebenenfalls dienliche Befunde.

Auch in der deutschen Ernährungsforschung sind die dem Verbraucher näher stehenden und alltagsrelevanten Forschungsarbeiten häufiger durch Industriemittel (mit)finanziert. Die öffentliche Hand fördert bei uns bekanntlich stärker die Grundlagenwissenschaften. Insbesondere in der sogenannten Public Health hat dieses Förder-Bias seine Brisanz; man denke nur an sehr kontroverse Forschungsthemen, wie etwa zur Rolle von zuckerhaltigen Getränken an der Entwicklung von Übergewicht und Fettsucht (PloS Med. 10: e1001578). Hierzu gibt es eine Reihe guter wissenschaftlicher Arbeiten, die diese Förder-Schieflage aufzeigen. Ernährungswissenschaftler haben daher schon vor Jahren einen Verhaltenskodex für die Wechselwirkung mit der Industrie formuliert (Am. J. Clin. Nutr. 89: 1285-91). Neuere Studien belegen nun auch, dass sich die Situation bessert und sich die Ergebnisse von öffentlich geförderten und industriell unterstützten Studien einander annähern.

Interessant ist jedoch auch die Beobachtung, dass negative oder neutrale Befunde aus wissenschaftlichen Studien mit Industriebeteiligung nicht sachgerecht sekundär zitiert werden. Hier zeigt sich ein sogenannter White Hat Bias (Int. J. Obes. 34: 84-8): In amerikanischen Western trugen die Guten stets weiße, die Bösen dagegen schwarze Hüte. Die „Guten“, ob Journalisten, Wissenschaftler oder NGO-Vertreter, neigen demnach dazu, Industrie-Studien so zu interpretieren, dass sie eher zum Nachteil der Industrie gereichen, obwohl die reinen Resultate dies nicht rechtfertigen.

Die Beziehung von Ernährungsforschung und Industrie hat aber nach wie vor hohes Konfliktpotential. So werden Wissenschaftler bei BMBF-Ausschreibungen, aber auch durch die Universitäten und die Politik, geradezu zur Zusammenarbeit mit Unternehmen aufgefordert – nicht selten, um anschließend in der Öffentlichkeit und den Medien als „gekaufter Wissenschaftler” gegeißelt zu werden. Ernährungsexperten finden sich auch häufiger mit Bild in angesehenen Tageszeitungen, wenn sie als Experten in Beratungsgremien von Bundeseinrichtungen oder der EU fungieren und gleichzeitig Industriekontakte haben. Auch renommierte Tageszeitungen beteiligen sich zunehmend an diesem Scientist Bashing.

Es steht für mich außer Frage, dass man Befangenheiten benennen und Industriebeziehungen offen legen muss, wenn man öffentliche Aufgaben wahrnimmt. Wer aber fordert oder erwartet, dass qualifizierte Experten ohne jegliche Industrie-Affiliation für öffentliche Beratungsaufgaben zur Verfügung stehen, der möge bitte auch die Frage aufwerfen, wer deren Unabhängigkeit und Forschungsexpertise finanziert und sicherstellt. Ausgewiesene Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen sind nun mal aus denselben Gründen, die sie für Beratungsgremien qualifizieren, auch als Gesprächspartner, Berater oder Forschungspartner von Unternehmen attraktiv. Welcher Wissenschaftler möchte zukünftig noch für öffentliche Aufgaben zur Verfügung stehen, wenn er sich wegen irgendwelcher Industriekontakte in der Zeitung oder auf Internet-Plattformen angeprangert findet, oder gar per Email oder in einem sozialen Netzwerk bedroht wird?

Aber die Zukunft gehört wohl ohnehin den selbsternannten Experten – sie haben auch meist die einfachen Antworten. Das lässt sich bereits eindrücklich in den Programmen der Fernsehkanäle erkennen, die das Themenfeld Lebensmittel, Ernährung, Gesundheit immer ausgiebiger bespielen. Sah man dort neben Edel-Köchen, NGO-Vertretern und betroffenen Konsumenten in den letzten Jahren mal einen Wissenschaftler? Wer mag da auch hingehen?

Auch ich fand mich kürzlich wegen der Nähe zur Industrie wieder mal in der öffentlichen Kritik, nämlich als Mitglied im Bioökonomierat der Bundesregierung. In einem Spiegel online-Gastbeitrag von Anita Krätzer unter dem Titel „Zukunftsmarkt Bioökonomie: Alles Leben wird zu Geld gemacht“ wurde der Rat im Schulterschluss mit der Politik als verantwortungsloser Zirkel dargestellt, der ausschließlich Industrieinteressen – vor allem der Gentechnik-Industrie – verfolgt. Unabhängig von der „besonderen“ Qualität des Beitrages erlaubte der Spiegel der Autorin in diesem Beitrag zudem, direkt Werbung für das von ihr mitverfasste Buch „Irrweg Bioökonomie – Kritik an einem totalitären Ansatz“ zu machen. Auch dies ist eine neue Qualität von Diskurs mit der Öffentlichkeit.

Aber Doppelmoral hat ja ohnehin Hochkonjunktur. Da findet sich im Vorabendprogramm öffentlich-rechtlicher Fernsehsender umfangreiche Werbung für obskure Nahrungsergänzungsmittel – und nur wenig später treten im selben Kanal die Moralisten an, um in Spezialsendungen oder Gesprächsrunden die Verquickungen von Wissenschaft und Industrie zu geißeln. Und in vielen Printmedien sieht es nicht besser aus. Wer legitimiert hier, umgeben von Werbung für Lebensmittel, Nahrungsergänzungsmittel oder Produkten für die Gewichtsabnahme, die Journalisten, im „Dienst an der Öffentlichkeit” kritisch zu sein. Wieviel Doppelmoral muss ich mir gefallen lassen?

Wohin geht die Reise? Wir benötigen einen Ethik-Kodex für Journalisten und Wissenschaftler, der Standards für die Kommunikation aus der Forschung in die Gesellschaft sicherstellt. Nicht jeder Befund, nicht jede Studie ist für die Öffentlichkeit geeignet; Wissenschaft muss verantwortungsvoll sein und mit Maß kommunizieren, um das Vertrauen der Öffentlichkeit nicht zu verspielen (Sci. Eng. Ethics. 17: 399-409).

Der Weg führt nicht zurück in den Elfenbeinturm, auch wenn dies manchmal als die einfachere Lösung erscheint. Mit Freude habe ich daher die eben erschienene Stellungnahme der Leopoldina, Acatech und Union der Akademien der Wissenschaften „Zur Gestaltung der Kommunikation zwischen Wissenschaft, Öffentlichkeit und den Medien“ zur Kenntnis genommen. Die darin formulierten Empfehlungen an die Wissenschaft und ihre Träger sowie an Medien und Politik sind ein guter Einstieg in die „science communication 2.0“. Auch ich halte ein die Qualität der Information beziehungsweise des Lieferanten zertifizierendes Siegel für hilfreich. Was wird dieser Tage nicht alles durch Agenturen zertifiziert – warum nicht auch die Qualität von Information?

Die Wissenschaft wird künftig viel stärker nach ihrer Bedeutung, Ethik und Verantwortung für die Gesellschaft bewertet werden. Dies geht weit über Impact Factor, h-Index und Drittmittelquote hinaus. Allerdings müssen dafür neue Bewertungskriterien definiert werden, bei denen die Reduzierung auf irgendwelche Zahlen höchstwahrscheinlich nicht funktionieren wird. Aber auch wenn es schwierig erscheint, sollte man es angehen. Das Einfache ist bereits getan und kann auf Knopfdruck bei ISI abgerufen werden.

Hannelore Daniel ist Inhaberin des Lehrstuhls für Ernährungsphysiologie am Zentralinstitut für Ernährungs- und Lebensmittelforschung der Technischen Universität München. Überdies ist sie Mitglied im Bioökonomierat der Bundesregierung.


Letzte Änderungen: 11.07.2014