Editorial

Endocannabinoide

von Mario Rembold (Laborjournal-Ausgabe 3, 2016)


Stichwort

Illustr.: gwpharm.com

Es dürfte so ziemlich das Schlimmste sein, was einem Pharmaunternehmen passieren kann; ganz zu schweigen von den Betroffenen und deren Angehörigen: Aus heiterem Himmel zeigt ein Wirkstoff plötzlich tödliche Nebenwirkungen. So geschehen im Januar dieses Jahres in der französischen Stadt Rennes. Dort nahmen sechs Probanden an einer klinischen Phase-I-Studie der portugiesischen Firma Bial teil und bekamen das Präparat mit der Nummer BIA 10-2474. Die Substanz war zuvor bereits 90 Testpersonen verabreicht worden, offenbar ohne Komplikationen. Diesmal aber zeigten fünf Teilnehmer wenige Tage nach der ersten Einnahme neurologische Ausfälle, ein Proband verstarb. Drei der Versuchspersonen werden womöglich bleibende Hirnschäden davontragen.

Fatale Nebenwirkung

BIA 10-2474 ist ein Inhibitor der Fettsäureamid-Hydrolase (FAAH). Und auf diese FAAH-Inhibitoren setzten Mediziner bislang große Hoffnungen: Angststörungen, Schmerzen und neurodegenerative Erkrankungen wollte man damit behandeln. In anderen klinischen Studien gab es bislang keine Berichte zu schweren Nebenwirkungen dieser Substanzen. Doch was macht FAAH-Inhibitoren so reizvoll für die Medizin? Sie greifen in ein neuromodulatorisches System ein, das man bis in die 1990er Jahre hinein nur als Ziel diverser psychoaktiver Substanzen kannte, den Cannabinoiden.

Moleküle wie das Tetrahydrocannabinol (THC) aus der Hanfpflanze binden im menschlichen Körper an Cannabinoidrezeptoren und lösen dann die bekannten Rauschzustände aus, wirken aber bei vielen Konsumenten auch beruhigend und schmerzstillend. Zwei Cannabinoidrezeptoren sind bekannt, nämlich CB1 und CB2; beides G-Protein-gekoppelte Transmembranproteine.

Nun galt es auch vor 25 Jahren als unwahrscheinlich, dass die Natur uns einen Rezeptor nur deshalb schenkt, damit wir Joints genießen können. 1992 beschrieben israelische Forscher dann erstmals ein körpereigenes Molekül mit Cannabinoid-artiger Wirkung. Sie hatten eine Substanz aus Schweinehirnen isoliert, die die Bindung radioaktiv markierter Cannabinoide an die Rezeptoren verhindern konnte. Im Massenspektrometer identifizierten sie die Verbindung als ein Derivat der Arachidonsäure und nannten sie Anandamid. Damit war der erste endogene Ligand der Cannabinoidrezeptoren gefunden. Heute sind weitere dieser sogenannten Endocannabinoide bekannt, allesamt Lipide, die aus Molekülen der Zellmembran synthetisiert werden. Am besten erforscht ist neben Anandamid das 2-Arachidonylglycerol, kurz: 2-AG.

Endocannabinoide werden unter anderem in der Nähe von Synapsen freigesetzt und binden dort vor allem an CB1. Allerdings unterscheiden sie sich in zweifacher Hinsicht von klassischen Neurotransmittern. Zum einen speichern Zellen diese Moleküle nicht auf Vorrat in Vesikeln. Endocannabinoide werden nur bei Bedarf produziert und diffundieren dann sofort in den interzellulären Raum. Zum anderen schwimmen sie gewissermaßen gegen den Strom. So wird 2-AG von der postsynaptischen Membran aus freigesetzt und bindet an CB1 auf präsynaptischer Seite. Über G-Proteine hemmt der Cannabinoidrezeptor dann die Neurotransmitter-Ausschüttung (ein Review hierzu in Biol Psychiatry; doi: 10.1016/j.biopsych.2015.07.028).

Die Synthese der Endocannabinoide kann durch diverse Kaskaden, häufig über G-Proteine, ausgelöst werden, oder auch direkt durch Depolarisierung der Membran. Auf diesem Weg sind Synapsen in der Lage, kurzfristig ihre Aktivität herunterzufahren. Man spricht von Depolarization-induced suppression of inhibition oder excitation, je nachdem, ob eine inhibierende oder aktivierende Synapse gehemmt wird. Weiterhin ist die Aktivität der Cannabinoidrezeptoren natürlich von der Abbaurate der Endocannabinoide abhängig.

Und ein solches Abbauenzym ist die eingangs erwähnte FAAH. Verabreicht man nun einen FAAH-Inhibitor, dann sollten Endocannabinoide langsamer abgebaut werden und länger mit ihren Rezeptoren interagieren. Und weil Endocannabinoide eben auch die Schmerzverarbeitung bremsen und diverse andere neuronale Prozesse regulieren, wären FAAH-Inhibitoren interessante Kandidaten für klinische Anwendungen. Allerdings beschränkt sich das Endocannabinoid-System keineswegs auf einzelne Hirnregionen, sondern die beteiligten Moleküle regulieren Prozesse in allen möglichen Organen, auch außerhalb des zentralen Nervensystems. CB2 wird zum Beispiel bei Verletzungen und Entzündungen im Gewebe hochreguliert. 2-AG ist nicht nur ein Ligand der Cannabinoidrezeptoren, sondern auch ein Zwischenprodukt der Prostaglandin-Synthese. Dann ist das Endocannabinoid-System auch noch an der Regulation von Hunger und Appetit beteiligt. Während Anandamid vor allem durch FAAH abgebaut wird, scheinen für die 2-AG-Degradation andere Enzyme bedeutsamer zu sein. 2-AG hat im Vergleich zu Anandamid eine höhere Affinität zu Cannabinoidrezeptoren. Kurz gesagt: Die Sache mit den Endocannabinoiden ist komplizert.

Unberechenbare Wirkstoffe

In diesem Licht scheint es schwer vorhersagbar, welche Effekte man auslöst, wenn man an einer Schraube im Gefüge dreht. Ein von Pfizer entwickelter FAAH-Inhibitor hatte sich in einer klinischen Studie an Arthrose-Schmerzpatienten 2012 als unwirksam erwiesen (Pain 153:1837-46). Was genau Anfang 2016 in Frankreich dazu führte, dass Probanden massive Nervenschädigungen erlitten haben, ist noch unklar (Stand zum Redaktionsschluss am 11.02.2016). Lag es an der Dosierung, dass die 90 vorherigen Teilnehmer von schweren Nebenwirkungen verschont blieben? Oder ist ein Fehler die Ursache, der gar nichts mit dem eigentlichen Wirkstoff zu tun hat? Es bleibt zu hoffen, dass die Untersuchung der Vorfälle Licht ins Dunkel bringt.



Letzte Änderungen: 01.03.2016