Editorial

RNA-Welt

von Martin Neukamm (Laborjournal-Ausgabe 05, 2014)


Stichwort

Protozelle: Fettsäure-Vesikel mit RNA-Molekülen.
Illustration: Janet Iwasa / HHMI

Vor ein paar Monaten vollzogen Nobelpreisträger Jack Szostak und Katarzyna Adamala ein Schlüsselereignis in der Entwicklung der ersten Zellvorläufer (Protozellen) experimentell nach. Seinem Team an der Harvard Medical School gelang erstmals die Replikation von Ribonukleinsäuren (RNA) innerhalb von Fettsäure-Vesikeln (Science 342: 1098-1100).

Schon lange diskutiert man RNA als möglichen „Informationsträger“ der ersten Lebensformen und somit als Vorläufer der DNA. Eine Reihe von Befunden stützt diese so genannte „RNA-Welt-Hypothese“. So beobachteten etwa Thomas Cech und seine Mitarbeiter an der University of Colorado in Boulder erstmals in den 1980ern, dass einige RNA-Moleküle die Eigenschaft zur Selbstvervielfältigung besitzen. Zudem konnten sie auch in Abwesenheit von Enzymen als so genannte Ribozyme chemische Reaktionen katalysieren. Somit erschien plausibel, dass die Vorfahren der heutigen Lebensformen RNA sowohl als genetischen Speicher wie auch als Katalysatoren chemischer Reaktionen nutzen konnten. DNA und Proteine hätten demnach erst im späteren Verlauf der Evolution diese Aufgaben getrennt übernommen.

Allerdings reichen einige RNA-Moleküle in freier Lösung nicht aus, um interessante chemische Reaktionen zu beobachten. Dies geschieht erst in relativ hoher Konzentration – etwa nach Anreicherung in diskreten, abgeschirmten Reaktionsräumen.

Vesikel machen‘s möglich

Und hier kommen die Fettsäure-Vesikel ins Spiel. Diese bieten exakt die für die Replikation wichtigen Reaktionsräume und gestatten halbwegs selektiv nur bestimmten Reaktanden (Wasser, Ionen, Fettsäuren, RNA-Bausteinen usw.) den Durchtritt ins Innere. Außerdem können Fettsäure-Vesikel in wässrigen Lösungen von selbst entstehen. Die dafür benötigten Fettsäuren bilden sich unter den Bedingungen einer Uratmosphäre – wie das berühmte Miller-Urey-Experiment bereits 1953 gezeigt hat.

Bislang gab es jedoch ein Problem: Die Hypothese von der Selbstvervielfältigung der RNA krankte daran, dass Magnesium-Ionen für den Kopiervorgang erforderlich sind. Diese kommen zwar im Ozeanwasser reichlich vor, zerstören jedoch sowohl die einsträngige RNA als auch die Fettsäurehülle. Adamala und Szostak konnten jedoch nachweisen, dass Citrat das Magnesium in einer Weise „maskiert“, dass die Fettsäuremembranen intakt bleiben. Damit ermöglicht das Citrat zugleich die Vervielfältigung der RNA und schützt die einsträngige RNA vor dem durch Magnesium-Ionen beschleunigten Abbau. Die Teilung der Protozelle wird zwar von dem System nicht direkt angestoßen, kann aber mechanisch (durch Scherkräfte, z.B. Wellenbewegungen) erzwungen werden.

Natürlich wäre es einfacher, den RNA-Replikationsprozess mithilfe von Enzymen (RNA-Replikasen) im Labor auszuführen – in Abwesenheit von Fettsäuremembranen. Doch präbiotisch plausibel wäre dieses Szenario nicht: In der RNA-Welt stand noch keine komplizierte Transkriptions- und Translations-Maschinerie zur Verfügung, die es für eine entsprechende Enzymproduktion braucht. Diese war wegen der Ribozym-Aktivität bestimmter RNA-Spezies auch nicht zwingend notwendig.

Offenbar machen Lipidmembranen die Replikation der RNA folglich überhaupt erst möglich. Allerdings bleiben spontan entstandene Lipidmembranen in aller Regel nicht lange stabil. Da jedoch Ribozyme wiederum die kontrollierte Synthese von Lipidmembranen ermöglichen und zu deren Stabilisierung beitragen können, ist die Kombination von RNA und Lipidmembran letztlich für beide von Vorteil – es entsteht eine Art der „Symbiose“, die zwangsläufig einen Evolutionsprozess in Gang setzt. Denn bei jeder Replikation treten Kopierfehler auf, die einem Selektions- bzw. Optimierungsprozess unterliegen: Eine RNA, die sich rascher repliziert und die Fettsäurehülle besser stabilisiert, wird dadurch letztlich auch mehr Kopien von sich erzeugen.

Entsprechend formulierte Szostak bereits 2012 das Szenario einer RNA-gesteuerten Lipid-Synthese, wobei geeignete Ribozyme die kontrollierte Anlagerung von Fettsäuremolekülen in die Membranen möglich machen. Dieser Einschluss entsprechender RNA-Moleküle in Lipidmembranen ermöglichte nachfolgend die kontrollierte und geordnete Vervielfältigung von RNA und Zellmembran inklusive deren wechselseitige Stabilisierung: Eine evolutionsfähige (Proto-)Zelle war entstanden.

Ausgangspunkt dieses Evolutionsszenarios sind also besagte Fettsäure-Vesikel sowie bestimmte aktivierte RNA-Bausteine (J. Am. Chem. Soc. 135: 924-32). Letztere neigen von selbst zur Polymerisation. Durch Kombination der verschiedenen Bausteine entstehen auf diese Weise beliebig viele, unterschiedliche RNA-Molekülketten in den Protozellen. In der Nähe heißer Hydrothermal-Schlote werden die Doppelstränge immer wieder aufgespalten, wodurch sich wieder neue RNA-Bausteine an die einzelsträngige RNA anlagern. Die RNA-Moleküle vermehren sich also zunächst spontan, das heißt ohne katalytischen Einfluss. Irgendwann befindet sich unter den RNA-Molekülen zwangsläufig eine Ribozym-Spezies, die die Replikation katalysiert – der Beginn der Ko-Evolution von Fettsäure-Vesikel und RNA.

Plausibles Szenario

Um Missverständnissen vorzubeugen: Szostak erhebt nicht den Anspruch, nachgewiesen zu haben, wie das Leben auf der Erde entstanden ist, sondern liefert ein Modell, wie es plausibel entstanden sein könnte. Die Frage nach der Entstehung des Lebens ist damit längst nicht geklärt; viele Probleme müssen noch gelöst werden. Zum Beispiel, dass die Gegenwart von Citrat auf der frühen Erde chemisch derzeit nicht plausibel gemacht werden kann. Dennoch erscheint Szostaks Szenario als die derzeit beste Annäherung an den Ursprung des Lebens aus unbelebter Materie.



Letzte Änderungen: 13.05.2014