Editorial

Spiegelneurone

von Kirstin Meier (Laborjournal-Ausgabe 12, 2001)


Am Anfang hatten die Menschen eine einzige Sprache. Als sie aber mit Gott wetteiferten und einen Turm planten, der bis zum Himmel reichen sollte, bestrafte er sie für ihren Übermut. "Wir steigen hinab und verwirren ihre Sprache, damit keiner mehr den anderen versteht", sprach der Herr und verurteilte die Menschen dazu, fortan in verschiedenen Zungen zu reden. So schildert die Bibel im Buch Genesis die Entstehung und Vielfalt unserer Sprache. Aber spätestens seit Darwins Evolutionstheorie geben sich Biologen mit der biblischen Erklärung der babylonischen Sprachverwirrung nicht mehr zufrieden. Wo aber liegen die Ursprünge der menschlichen Sprache, und welcher evolutionäre Schritt führte schließlich von der Lautbildung der Affen zur ausgeprägten Kommunikationsfähigkeit des Menschen?


Missing Link

Der entscheidende Fortschritt, sozusagen das "Missing Link" der Sprachevolution, könnten nach Ansicht von Neurobiologen Spiegelneurone sein, die Vittorio Gallese und Giacomo Rizzolatti von der Universität Parma durch einen Zufall entdeckten. Die beiden untersuchen seit gut zehn Jahren den prämotorischen Cortex, der in den Gehirnen der Primaten eine entscheidende Rolle bei der Koordinierung und Ausführung zielorientierter Bewegungen, beispielsweise dem Greifen, spielt. Dazu implantierten die Italiener Versuchsaffen Elektroden in das Gehirn, mit deren Hilfe sie die Aktivität der prämotorischen Neuronen maßen.

So konnten sie verfolgen, wie die Neuronen feuerten, wenn die Tiere nach einem Gegenstand griffen. Eines Tages geschah bei den Experimenten mit den Affen etwas Unerwartetes: Eines der Tiere saß vollkommen ruhig im Käfig. Seine Nervenzellen übermittelten jedoch ein Signal, ganz so als würde es nach einem Gegenstand greifen - der Affe hatte das Greifen jedoch nur beobachtet. Allein das Betrachten einer Handlung, so schlossen Gallese und Rizzolatti, löst offensichtlich einen Nervenimpuls aus. Diese Deutung war sensationell, waren Neurowissenschafter bis dahin doch von einer strikten Arbeitsteilung des Gehirns in sensorische und motorische Areale ausgegangen.


Schon der Glaube genügt

Giacomo Rizzolatti und sein Team vermuteten, dass diese speziellen Neurone nicht nur aktiv sind, wenn ein Affe nach einem Gegenstand greift, sondern auch, wenn er anderen bei diesem Vorgang nur zusieht. Wie Spiegel reflektieren sie die wahrgenommene Bewegung im Gehirn, Giacomo Rizzolatti bezeichnete sie folglich als Spiegelneurone. Mit weiteren Versuchsreihen untermauerte er seine Theorie. Sahen die Versuchs-Affen beispielsweise zu, wie eine Person nach etwas griff, sendeten die Spiegelneurone der Affen Signale aus. Auch wenn der Gegenstand hinter einem Schirm verborgen war, feuerten die Nervenzellen. Dies aber nur solange, wie die Versuchstiere annehmen mussten, dass sich hinter dem Schirm tatsächlich etwas befand. Sobald sie bemerkten, dass hinter diesem nichts lag und die Hand ins Leere griff, blieben die Neuronen ruhig. "Diese Daten zeigen, dass der Impuls im Kopf auch dann aktiv ist, wenn wir glauben, dass eine Handlung stattfindet" meinte Giacomo Rizzolatti im März in den amerikanischen "Dallas Morning News" .

Auch der Mensch aktiviert Gehirnregionen allein über das Beobachten von Bewegungen. Dies bestätigen Versuche des Psychologen Marcel Braß vom Max-Planck-Institut in München, aber auch anderer Forschungsgruppen. Direkt daran beteiligt ist das unmittelbar vor dem motorischen Cortex gelegene Sprachzentrum. Dieses so genannte Broca-Areal hat seine Entsprechung in der prämotorischen Hirnrinde des Affen.


Fingerspiele

Marcel Braß mass die Hirnaktivität bei Probanden, die Fingerbewegungen beobachteten und imitierten oder aber echte Fingerbewegungen auf ein vereinbartes Zeichen hin ausführten. Und tatsächlich: Ahmte die Versuchsperson die Bewegung nach, wurden die Neuronen des Broca-Areals aktiviert. Wie beim Affen, wird auch beim Menschen die Nachahmung über einen Mechanismus vermittelt, der beobachtete und auszuführende Handlungen direkt miteinander verknüpft (Science, 1999, Vol.286, S.2526-8).


Gleiche Wellenlänge

Diese Zusammenhänge stützen die Hypothese, dass Spiegelneurone die biologische Basis für die rätselhafte Evolution der menschlichen Sprache sein könnten. Michael Arbib, Neurologe an der Universität von Südkalifornien, nimmt an, dass die Vorläufer des Broca-Areals mit Spiegelneuronen ausgestattet waren, um Handlungen anderer zu erkennen. Denn ein Individuum, das eine Botschaft sendet, muss die Bedeutung des Signals in der gleichen Weise verstehen, wie der Empfänger der Botschaft. Warum die Spiegelneurone dafür verantwortlich sein könnten, dass wir unsere Umwelt verstehen, erklärt Giacomo Rizzolatti anhand eines Beispiels: "Wenn ich ein Mädchen einen Apfel essen sehe, verstehe ich, was es tut, weil automatisch ein gleicher Impuls auch in meinem Kopf entsteht." Die weitere Sprachentwicklung stellen sich Wissenschaftler deshalb so vor: Aus dem bloßen Erkennen und Verstehen könnte eine Zeichensprache entstanden sein. Von diesem Abstaktionsvermögen bis zum verbalen Kommunikationssystem hätte dann nur ein vergleichsweise kleiner Schritt gelegen. Bestätigt sich diese These, brächten die Spiegelneuronen-Forscher eine zweite traditionelle Lehrmeinung ins Wanken, nach der sich die Sprache über Lautbildungen entwickelt haben soll.

Für den Neurowissenschaftler Vlayanur S. Ramachandran ist die Entdeckung der Spiegelneurone denn auch die wichtigste kaum veröffentlichte Wissenschaftsgeschichte des Jahrzehnts. Durch ihre weitere Erforschung, so spekuliert er, würden wir verstehen, wie der Mensch seine ungewöhnlichen Geisteskräfte erlangen konnte.



Letzte Änderungen: 20.10.2004