Editorial

Cerebraler Blutfluss

von Harald Zähringer (Laborjournal-Ausgabe 07, 2001)


1848 zog sich der amerikanische Gleisarbeiter Phineas P. Gage eine Kopfverletzung zu, die ihn zu einer Berühmtheit in Neurologen-Zirkeln machte. Gage wollte bei Sprengarbeiten eine Dynamitladung mit einem fast drei Zentimeter dicken und einen Meter langen Eisenstab in ein Bohrloch schieben, als das Dynamit plötzlich explodierte. Einer Rakete gleich drang die Eisenstange in Gages linke Backe ein und trat im vorderen Bereich des Schädels wieder aus. Wie durch ein Wunder überlebte er diesen schrecklichen Unfall und erholte sich auch bald von seinen physischen Verletzungen. Das Wesen des Phineas Gage hatte sich jedoch radikal verändert: Aus dem ehemals verantwortungsvollen, ruhigen Vorarbeiter war ein unausstehlicher, asozialer Aufschneider geworden.

Knapp 150 Jahre später vermassen die Neurologen Hanna und Antonio Damasio die Zerstörungen an Gages Schädel neu. Laut ihrer Computer-Rekonstruktion wurde bei Gages Malheur die Ventromediale Region des Vorderhirns zerstört. Offensichtlich verlor er dadurch die Fähigkeit rationale Entscheidungen zu treffen und seine Emotionen zu steuern.


Hightech statt Gehirnverletzte

Lange Zeit waren Neurologen auf Patienten wie Gage angewiesen, wollten sie einen Einblick in die Funktionen spezieller Gehirn-Areale erhalten. Seit etwa zwanzig Jahren stehen ihnen dazu auch nichtinvasive, bildgebende Verfahren zur Verfügung. Zwei davon, die Positronenemissions-Tomographie (PET) und die 1992 eingeführte funktionale Kernspin-Tomographie (fMRI), setzen Neurowissenschaftler derzeit intensiv für die Kartierung der humanen Gehirnfunktionen ein.

Zentren, die das Gehirn für die Lösung kognitiver Aufgaben aktiviert, sind stärker durchblutet als nichtaktive Gehirn-Bereiche. Sowohl bei der PET als auch der fMRI wird dies für die Visualisierung funktionaler Zentren genutzt.

Bei der PE-Tomographie erhält der Proband eine Injektion mit Positronenemittierendem Wasser (H215O), während er sein "Gehirnschmalz" einsetzt, um vorgegebene Aufgaben zu lösen. In den aktiven Gehirn-Arealen ist mit dem Blutfluss auch die H215O-Konzentration erhöht. Zerfallen die 15O-Kerne, emittieren sie Positronen, die nach ein bis zwei Millimetern Wegstrecke mit Elektronen kollidieren. Bei jedem Zusammenstoß werden so zwei Gamma-Strahlen freigesetzt, die sich unter einem Winkel von 180º in entgegengesetzte Richtungen fortpflanzen. Die Strahlen treffen auf einen Ringdetektor, der dieses Signal zur Lokalisierung und bildlichen Darstellung des Ausgangspunktes an einen Computer weiterleitet. Auf diese Weise können Gehirnforscher aktive Zentren des Gehirns auf 5 bis 10 Millimeter genau bestimmen.


Zweifel an Theorie

Bisher nahmen Neurologen an, dass der steigende cerebrale Blutfluss die Versorgung der arbeitenden Gehirn-Zellen mit mehr Sauerstoff sicher stellen soll - immerhin verbucht das Gehirn 20 % des menschlichen Sauerstoffbedarfs, obwohl es nur 2 % zum Körpergewicht beiträgt. Zweifel an dieser Vorstellung äußert Mark A. Mintun von der School of Medicine der Washington University in einem, am 5. Juni in den Proceedings of the National Academy of Science veröffentlichten Paper. Er ist zwar noch immer überzeugt, dass der ansteigende Fluss eine Zunahme der Gehirnaktivität anzeigt. Mintun sieht jedoch keinen Zusammenhang mehr zwischen steigendem Blutfluss und der Sauerstoffversorgung des Gehirns.

Gemeinsam mit seinen Kollegen untersuchte er, wie sich der Sauerstoffgehalt des Blutes auf den Blutfluss in aktiven Gehirnzentren auswirkt. Hierzu scannte Mintuns Team die Gehirne von Freiwilligen mit einem PE-Tomographen, während diese ein weißes Kreuz auf einem schwarzen Hintergrund betrachteten. Änderte sich dessen Helligkeit, mussten die Versuchspersonen einen Schalter drücken. Um die Sauerstoff-Konzentration des Blutes zu variieren, atmeten die Versuchsteilnehmer dabei Luft mit normalem oder stark reduziertem Sauerstoffanteil ein.


Neue Gleichungen

Mintun erwartete, dass der Fluss des Blutes im visuellen Kortex beim Einatmen der dünnen Luft - gemäß der gängigen Lehrmeinung - überproportional stark ansteigen würde. Dies geschah aber bei keinem der neun Studienteilnehmer. Seine Mitarbeiter überprüften daraufhin die mathematischen Modelle des cerebralen Blutflusses. Diese gingen bisher davon aus, dass Sauerstoff aus den Kapillaren in die Gehirnzellen diffundiert, der umgekehrte Weg aber wegen des hohen Sauerstoffbedarfs des Gehirns versperrt ist. Ließ Mintun diese Richtung in den Gleichungen zu, deckten sich diese wieder mit den PET-Daten des Experiments. Er nimmt deshalb an, dass das Gehirn Sauerstoff speichert und diese Reserve bei Bedarf anzapft.


Sauerstoff-Speicher im Gehirn?

Als Sauerstoff-Speicher könnten, so Mintun, Kapillaren dienen, die er in weit größerer Zahl im menschlichen Gehirn fand, als es für die Blutversorgung notwendig wäre. Dies könnte auch erklären, warum Tiere, etwa Ratten und Primaten, deren Gehirne mit deutlich weniger Kapillaren durchzogen sind, sehr empfindlich auf geringe Sauerstof-Konzentrationen des Blutes reagieren.

Mintuns Arbeit ist insbesondere für die Interpretation von PET- oder fMRI-Bildern aktiver Gehirnbereiche interessant, die im Rahmen des Gehirnkartierungs-Projektes gegenwärtig in großer Zahl entstehen. Zwar gilt bei deren Deutung noch immer, dass ein erhöhter Blutfluss auf eine verstärkte Aktivität hinweist. Nach Mintuns Studie ist aber wieder völlig offen, warum die Blutzufuhr steigt.



Letzte Änderungen: 20.10.2004