Editorial

Aus einer Welt
vor unserer Zeit

(08.01.2024) Mit Bioinformatik und synthetischer Biologie setzten Naturstoff­forsche­rin­nen ein Gencluster zur Herstellung eines urtümlichen Antibiotikums neu zusammen.
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Jedes Jahr im November findet die 2015 von der WHO initiierte „World Antimicrobial Resistance Awareness Week” statt. Eine sinnvolle Veranstaltung, denn leider sind Antibiotika-Resistenzen, obgleich zunehmend bedrohlich, in der Öffentlichkeit kein sonderlich präsentes Thema. Antibiotika sind weithin als sehr effektive Waffen gegen bakterielle Krankheitserreger bekannt, doch aufkommende Resistenzen machen sie stumpf. Umso wichtiger, dass auch nach neuen (oder alten?) Wirkstoffen gegen human­pathogene Bakterien gesucht wird – wie etwa an der Universität Tübingen. So berichteten kürzlich die Arbeitsgruppen von Stephanie Grond, Evi Stegmann und Nadine Ziemert, zusammen mit einer Forschergruppe der australischen Monash University in Melbourne um Max J. Cryle, über ein „Ur-Antibiotikum“ aus der Gruppe der Glykopeptide.

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Aufwendige, aber wichtige Antibiotika-Klasse

Zu den Glykopeptid-Antibiotika (GPA) gehören unter anderem Vancomycin und Teicoplanin. Sie werden vielfach im Kampf gegen Gram-positive Bakterien wie multiresistente Staphylo­kokken eingesetzt und entfalten ihre antibiotische Wirkung vorwiegend durch die Interaktion mit der für die Bakterien essenziellen Zellwand­vorstufe Lipid II.

GPAs zeichnen sich durch multi­zyklische Peptidstrukturen aus und werden natürlicherweise von Actino­bacteria als Sekundär­metabolite synthetisiert. Dafür sind zahlreiche Faktoren nötig, die in mehrere Dutzend Kilobasen umfassenden biosynthetischen Genclustern (BGC) codiert werden. Bei Teicoplanin sind dies rund 40 Gene (Appl Microbiol Biotechnol, 104(8):3279-3291). Deren Produkte bewerkstelligen eine dreigeteilte Synthese des Antibiotikums: Zunächst werden die nicht-pro­teino­genen Vorstufen synthetisiert, danach ein nicht-ribosomal hergestelltes 7-mer Peptid als Core-Struktur assembliert und schließlich findet gewissermaßen ein „Feinschliff“ (tailoring) der Peptidstruktur statt.

Bioinformatischer Blick in die Vergangenheit

Der Ursprung der bakteriellen Glykopeptid-Biosynthese könnte, wie eine kanadische Gruppe 2019 berechnete, 150-400 Millionen Jahre in der Vergangenheit liegen (Nat Microbiol, 4(11): 1862-71). Das australisch-deutsche Team nahm mit seiner aktuellen Studie erfolgreich diese Spur auf.

Die Autorinnen und Autoren erstellten zunächst einen phylo­genetischen Stammbaum von 29 Genclustern verschiedener Bakterien für die GPA-Synthese. Dabei berücksichtigten sie primär den genetischen Inhalt der Cluster und folgerten daraus, dass es im Laufe der Evolution zu horizontalem Gentransfer zwischen den Gattungen Amycolatopsis und Streptomyces, zu Umgruppierungen, dem Verlust oder dem Zugewinn von Genen gekommen sein muss. Auf Grundlage bioinformatischer Analysen verschiedener Typen von GPAs postulierte die Gruppe schließlich ein Ur-GPA-Bio­synthese­cluster. Dieses sollte ein Antibiotikum synthetisiert haben, das die Autorinnen und Autoren nach der vermuteten erdgeschichtlichen Ära „Paleomycin“ tauften.

Rekonstruiertes Fließband

Das vorhergesagte Paleomycin-Bio­synthese­cluster mit ca. 28.000 Basenpaaren ließ sich die Gruppe kommerziell herstellen. Die Sequenz wurde mit einem starken konstitutiven Promotor versehen, um eine erhöhte Genexpression zu erzielen. Anschließend verpflanzten Mathias Hansen et al. das DNA-Konstrukt in das Genom des Actinomyceten Amycolatopsis japonicum, dem zuvor ein verwandtes Glykopeptid-Gencluster entfernt worden war. Nach einigen weiteren genetischen Umbaumaßnahmen konnte das Autorenteam im Kulturfiltrat des erzeugten Bakteriums durch Chromatographie und Massenspektrometrie tatsächlich Paleomycin nachweisen. Die antibiotische Wirkung der aufgereinigten Extrakte untersuchten die Tübinger am Gram-positiven Modellbakterium Bacillus subtilis. Es zeigte sich eine deutliche Hemmung des Wachstums.

Um die molekulare Evolution der GPA-Synthese noch besser zu verstehen, nahm das Forschungsteam einen 10-mer Peptidabschnitt im aktiven Zentrum eines wesentlichen Enzyms genauer in den Blick. Dieser Abschnitt weist in verschiedenen Varianten bis zu vier Aminosäure-Austausche auf. Es gelang, relevante Regionen der Proteine aufzureinigen, zu kristallisieren und einer Röntgenstrukturanalyse zu unterziehen. Dabei zeigte sich, dass die Bindestelle für die Aminosäure 4-Hydroxy­phenyl­glycin evolutiv verändert wurde, um eine größere Promiskuität für weitere Aminosäuren zu erzielen.

Im Zahnstein von Neandertalern

Strukturell ähnelt Paleomycin eher Teicoplanin als dem vergleichsweise einfach gebauten Vancomycin. Die Autorinnen und Autoren schlossen aus ihren Analysen, dass Vancomycin evolutiv jünger ist. Eine Erklärung könnte in der günstigeren Energiebilanz bei der Synthese liegen: So ist der Bedarf an Intermediaten aus dem Shikimatweg für die Synthese von Vancomycin im Vergleich zu Paleomycin um rund 30 Prozent reduziert. Ein Bakterium, das ein einfacher gebautes, aber genauso effektives Antibiotikum synthetisiert, könnte also einen entscheidenden Fitnessvorteil haben.

„Als Ergebnis ist für uns zum einen interessant, dass nach den Berechnungen alle Glykopeptid-Antibiotika von einem einzelnen Vorläufer abstammen. Zum anderen ergab sich, dass Paleomycin im Kern des Moleküls eine ähnlich komplexe Peptidstruktur aufweist wie Teicoplanin“, resümiert Evi Stegmann in einer Pressemeldung. Und Nadine Ziemert ergänzt: „Wir gehen davon aus, dass sich diese Vereinfachung erst in der jüngeren Evolution ergeben hat. Die Funktionsweise als Antibiotikum blieb jedoch mit dem gleichen Mechanismus erhalten“.

Die Idee, codierte Informationen aus urzeitlicher DNA nutzbar zu machen, hatten unter anderem auch Forschende aus dem Leibniz-Institut für Naturstoff-Forschung und Infektionsbiologie in Jena. So fahndeten die Labore von Pierre Stallforth und Christina Warinner kürzlich in bis zu 100.000 Jahre alten DNA-Fragmenten – unter anderem im Zahnstein von Neandertalern – erfolgreich nach Biosynthese-Genen für bislang unbekannte Naturstoffe, die sie Paleofurane nannten (Science, 380(6645):619-24). Tatsächlich eröffnet sich hier ein Reservoir für die Synthese alter Substanzen, die auch heute noch als Grundlage für neue Naturstoffe oder Lead-Strukturen für die Medizin interessant sein könnten.

Ralph Bertram

Hansen M. et al. (2023): Resurrecting ancestral antibiotics: unveiling the origins of modern lipid II targeting glycopeptides. Nat Commun, 14(1):7842.

Bild: Universität Tübingen/CMFI


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Letzte Änderungen: 08.01.2024