Editorial

Das Projektparadox

(24.11.2023) Wer als Wissenschaftler generalisierende Modelle oder übergeordnete Theorien entwerfen will, ist in der Organisationsform „Projektförderung“ denkbar schlecht aufgehoben.
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Das Schicksal vieler Bücher ist ja, dass sie nur kurz Aufmerksamkeit erzeugen – und dann schnell wieder vergessen werden. Ob das jetzt auch genau so auf das Buch „Forschungsprojekte — Zum Organisationswandel in der Wissenschaft“ der Berliner Soziologin Cristina Besio aus dem Jahre 2009 zutrifft, wissen wir nicht. Aber angesichts des Themas ist es anzunehmen. Dabei sind die Gedanken, die Frau Besio darin ausbreitet, auch heute noch durchaus interessant und relevant. Daher eine kleine Kostprobe daraus – konkret zu dem, was sie an vielen Stellen das „Projektparadox in der Forschung“ nennt:

"Damit etwas projektiert werden kann, muss es noch unbekannt sein (andernfalls machte die Forschung keinen Sinn), gleichzeitig muss es aber bereits bekannt sein (weil sich sonst keine Forschungsplanung entwerfen ließe).

Editorial

Welches Wissen ist projektierbar?

Zwischen der Vorstellung von Forschung als einem offenen, durch die Neugierde des Wissenschaftlers gelenkten Prozess und der Projektierung der Forschung herrscht eine offensichtliche Inkongruenz. Die Vorwegnahme des Neuen bereits zu Beginn des Forschungsprozesses lässt sich in Projekten nicht vermeiden, aber sie widerspricht der Vorstellung von der Wissenschaft als Prozess fortlaufender Entdeckungen. In Projekten kann man weder einfach von Prämissen ausgehen und dann schauen, was daraus wird, noch lassen sich Änderungen leicht hinnehmen. Andernfalls könnten Projekte nicht auf die für sie eigene Art für Unsicherheitsabsorption sorgen.

Daher stellt sich die Frage: Wie kann man schon von vorneherein etwas bestimmen, das man ja eben gerade durch die Forschungstätigkeit erst entdecken will? […] Welches Wissen ist überhaupt projektierbar?"

Nur konkrete Fälle liefern Projekte

In über 400 weiteren Seiten liefert Cristina Besio die Antwort: Der Großteil der Forschungsprojekte beziehe sich auf konkrete Fragestellungen, die zeitlich und räumlich überschaubar sind. Zudem beschränken sich die allermeisten Projekte auf die Analyse eines konkreten Falls und verzichten auf jegliche Form der Generalisierung. Was umgekehrt heißt: Forschung, die über den Tellerrand blicken will und als Ziel verfolgt, ein generalisierendes Modell oder eine übergeordnete Theorie zu entwerfen, ist in der Organisationsform „Projekt“ denkbar schlecht aufgehoben.

Sollte man durchaus bedenken bei seinem nächsten Projektantrag. 

Ralf Neumann

(Illustration.: ClipartKey / Syam Manohar)

 

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Letzte Änderungen: 23.11.2023