Editorial

Glänzende Karriere mit dunklen Flecken

(09.11.2023) Adolf Butenandt, Konrad Lorenz, Kurt Mothes – vielfach geehrte Wissenschaftler, deren Biografien eher unehrenhaft sind. Die Uni Wien arbeitet sie auf.
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Denkmal für Theodor Billroth, errichtet 1944/1951 im Hof 1 des Alten Allgemeinen Krankenhauses Wien

Schaut man über wissenschaftliche Leistungen hinweg auf die Person, die diese Leistung erbracht hat, kommt man hin und wieder ins Schaudern. Da tun sich antisemitische, faschistische, menschenfeindliche Abgründe auf, die viele Universitäten und Institute in der Vergangenheit bereits zu Namens­änderungen veranlasst haben. So die Uni Greifswald, die seit 2018 nicht mehr Ernst-Moritz-Arndt-Universität Greifswald heißt, sondern einfach Uni Greifswald. Auch das ehemalige Heinrich-Pette-Institut legte 2021 den Namen des Institutsgründers ab (LJ berichtete).

Seit letztem Jahr beschäftigt sich auch die Uni Wien eingehender mit den von ihr vergebenen Ehrendoktorwürden, Ehrenplaketten oder in Stein verewigten Forscher-Denkmälern und arbeitet diese auf. „So wie der Akt der Ehrung in einem konkreten historischen Kontext steht, unterliegt auch die Betrachtung späterer Generationen einem sich permanent verändernden gesellschaftlichen, politischen und historischen Blick,“ heißt es dazu auf einer eigens erstellten Website. Insgesamt hat die Uni dafür 1.577 personen­bezogene Ehrungen kritisch unter die Lupe genommen und die Würdigung von 28 Personen aus heutiger Perspektive als „problematisch“ eingestuft, von weiteren 39 Personen als „diskussionswürdig“. Darunter mehrere Nobelpreisträger. Statt die Geehrten jedoch vom Sockel zu stoßen und ihnen die Ehrung posthum wieder abzuerkennen, entschied sich die Uni Wien für einen anderen Weg, nämlich deren fragwürdige Biografien zu kommentieren und sichtbar zu machen.

Editorial

Problematische Vergangenheit

„Als problematisch werden Ehrungen von Personen bezeichnet, die in der Öffentlichkeit durch antisemitische, rassistische, faschistische Äußerungen bzw. Handlungen hervorgetreten sind bzw. Vorurteile in Richtung gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit geäußert haben,“ definiert die Uni Wien. Aus den medizinischen, chemischen und lebenswissenschaftlichen Disziplinen trifft das auf insgesamt neun Personen zu. Darunter Theodor Billroth (1829–1894), Ludwig Heilmeyer (1899–1969), Ernst Boehringer (1896–1965), Konrad Lorenz (1903–1989) und Richard Johann Kuhn (1900–1967). Schauen wir uns die Geehrten genauer an.

Theodor Billroth wurde auf Rügen geboren und studierte Medizin an den Unis Greifswald, Göttingen und Berlin, von 1853 bis 1860 war er an der Charité tätig. Im Jahr 1888 nahm die Leopoldina ihn als Mitglied auf. Billroth setzte Maßstäbe in der Chirurgie, vor allem der Bauch- und Kehlkopf­chirurgie. So ist etwa das Verfahren zur operativen Entfernung eines Teils des Magens (Magenresektion) nach Billroth benannt, der diese Operation als Erster 1877 durchführte. Diese Leistungen ehrte die Uni Wien mit zwei Denkmälern und einer Ehrentafel. Billroth tat sich jedoch auch mit offen antisemitischen Ansichten hervor. So verstieg er sich in einem seiner Bücher zu, wie es auf der Website der Uni Wien heißt, „seitenlangen antisemitischen Polemiken gegen jüdische Studierende aus Galizien und Ungarn“. Seine Worte führten zu den ersten antisemitischen Gewalt­exzessen an der Uni Wien.

Internist und Opportunist

Der Internist Ludwig Heilmeyer hat die Nationalsozialisten direkt hofiert. In München geboren war er ab 1926 Assistenzarzt an der Uniklinik Jena. Er forschte unter anderem zum Eisen- und Kupfer­stoffwechsel, zu Leukämien und deren Behandlung mit Zytostatika und begründete die Nuklearmedizin-Abteilung an der medizinischen Klinik in Freiburg. Heilmeyer war Mitglied der Leopoldina, Ehrenvorsitzender der Deutschen Gesellschaft für Hämatologie, Träger des Bundes­verdienstkreuzes und überzeugter Nationalsozialist. Bereits 1933 war er Mitglied der SS und des paramilitärischen Wehrverbands „Stahlhelm“. Dass er kein Mitglied der NSDAP wurde, hatte andere Gründe: „Ludwig Heilmeyers Persönlichkeit und damit sein ausgeprägter Opportunismus dürften letztlich verhindert haben, dass er Funktionsträger des nationalsozialistischen Regimes werden konnte. Heilmeyer selbst setzte alles daran und ergriff jede sich bietende Gelegenheit“, schreiben Florian Steger und Jan Jeskow in ihrem Buch „Ludwig Heilmeyer. Eine politische Biographie“.

Mehr noch: Ab 1943 war er Arzt eines Großlazaretts für Kriegsgefangene in der Ukraine. In diesem Lazarett starben 150.000 Menschen durch Mangel­ernährung und unzureichende medizinische Versorgung. Beides dürfte auch zum Ausbruch einer Cholera-Epidemie unter den Insassen geführt haben, die Heilmeyer für bakteriologische Untersuchungen nutzte. Die Ergebnisse präsentierte er anschließend auf dem Wiener Kongress für Innere Medizin. Nach dem Krieg stellte er sich als Opfer des NS-Regimes dar. Die Strategie funktionierte, 1946 hatte er sich den Lehrstuhl für Innere Medizin am Universitäts­klinikum Freiburg gesichert. Seine Ansichten konnte er jedoch nicht verbergen: 1952 verschaffte er dem ehemaligen KZ-Lagerarzt Kurt Plötner eine Stelle am Uniklinkum Freiburg, außerdem „vergaß“ er den jüdisch-deutschen Hämatologen Hans Hirschfeld im „Handbuch für Hämatologie“ zu erwähnen, das er mitherausgab. Zu Recht haben sich die Städte Freiburg, Günzburg und Ulm für eine Umbenennung von Heilmeyer-Straßen entschieden, die Uniklinik Jena entfernte 2021 eine Ehrentafel.

Tierforscher und engagierter Nationalsozialist

Ernst Boehringer, Sohn von Albert Boehringer, dem Begründer des heutigen Pharma­unternehmens Boehringer Ingelheim, taucht ebenfalls auf der Liste der problematischen Ehrungen der Uni Wien auf – er wurde 1962 zum Ehrenbürger der Uni Wien ernannt. Boehringer studierte an den Unis Würzburg und München Chemie und war ab 1937 Co-Geschäftsführer des Familien­unternehmens. Seine Vergangenheit ist überschattet von Mitgliedschaften in der SA und der NSDAP. Allerdings, so erwähnt die Uni Wien auf ihrer Website, ist seine politische Gesinnung damit nicht endgültig bewiesen. „In seinen Firmen stellte er auch immer wieder vor allem jüdische Verfolgte ein oder half ihnen bei der Flucht ins Ausland“.

Eindeutiger ist da schon die Haltung von Konrad Lorenz zum Nationalsozialismus. Der 1903 in Wien geborene Tierverhaltensforscher arbeitete in den frühen 1930er-Jahren im Labor von Ferdinand Hochstetter (1861–1954), dessen Ehrung die Uni Wien ebenfalls zumindest als „diskussionswürdig“ einstuft. Ab 1961 war Lorenz Direktor des Max-Planck-Instituts für Verhaltens­physiologie in Seewiesen, 1973 erhielt er den Nobelpreis, gemeinsam mit Karl von Frisch und Nikolaas Tinbergen, „für ihre Entdeckungen zur Organisation und Auslösung von individuellen und sozialen Verhaltens­mustern“. Zwischen 1938 und 1945 schlug sich Lorenz bereitwillig auf die Seite der NS-Machthaber, er trat der NSDAP bei, bezeichnete sich selbst als „engagierten Nationalsozialisten“ und betonte, dass auch seine wissenschaftliche Arbeit ganz im „Dienste des nationalsozialistischen Denkens steht“. Er erhoffte sich dadurch wohl bessere Karrierechancen, kommentiert die Uni Wien. 2015 zog die Uni Salzburg die Ehrendoktorwürde für Lorenz zurück. Nobelpreise können indes nicht aberkannt werden, die Entscheidungen des Nobelkomitees sind endgültig.

Chemiker und Denunziant

Nobelpreis-gekrönt und von der Uni Wien mit einem Ehrendoktorat honoriert ist auch ein weiterer problematisch Geehrter: der Chemiker Richard Johann Kuhn. Von 1937 bis 1945 war er Direktor des Kaiser-Wilhelm-Instituts für Medizinische Forschung in Heidelberg, das heutige Max-Planck-Institut für medizinische Forschung. Den Chemie-Nobelpreis erhielt er 1938 für seine Forschung zu Carotinoiden und Vitaminen. Im selben Jahr hatte er über die Isolierung und Kristallisierung des Vitamins B6 aus Reiskleie und Hefe publiziert. Am Kaiser-Wilhelm-Institut fiel er nicht nur durch seine wissenschaftlichen Leistungen auf, sondern auch durch sein Verhalten gegenüber jüdischen Mitarbeitern. Gleich 1933 kündigte er allen seinen jüdischen Mitarbeitern und denunzierte Kollegen, die jüdische Mitarbeiter beschäftigten. Problematisch ist auch seine Beteiligung an der Erforschung von Nervengas. Kuhn synthetisierte 1944 den chemischen Kampfstoff Soman, der Kopfschmerzen, Atemnot und Krampfanfälle auslöst. Nach dem Krieg musste er keine Konsequenzen befürchten, „da er sich mit seinem Wissen in der Seuchen- und Krankheits­bekämpfung umgehend den Amerikanern anbot und daraufhin schon bald wieder in sein Büro in Heidelberg zurückkehren konnte“.

Neben den problematischen Ehrungen identifizierte die Uni Wien auch eine Reihe „diskussions­würdiger“ Auszeichnungen. „Als diskussionswürdig werden Ehrungen von Personen bezeichnet, die eher formal Ideologien oder Funktionär*innen unterstützt haben, die durch antisemitische, rassistische, faschistische Inhalte hervorgetreten sind bzw. Vorurteile in Richtung gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit geäußert haben.“ Auch hier einige bekannte Namen: Adolf Butenandt (1903–1995), der bereits erwähnte Ferdinand Hochstetter (1861–1954), Hans Molisch (1856–1937) und Kurt Mothes (1900–1983).

Der in Bremerhaven-Lehe geborene Adolf Butenandt erhielt 1964 das Ehrendoktorat der Uni Wien. Zu diesem Zeitpunkt und bis 1972 war er Präsident der Max-Planck-Gesellschaft. Einige Jahre zuvor, 1939, hatte er den Chemie-Nobelpreis „für seine Arbeit an Sexualhormonen“ bekommen. Butenandt hatte die Strukturen von Östrogen und Östriol gelöst sowie Androgen in Reinform hergestellt. Seine Karriere war ins Rollen gekommen, als er 1936 Direktor des Kaiser-Wilhelm-Instituts für Biochemie in Berlin wurde – nachdem man den jüdisch-deutschen Biochemiker Carl Neuberg entlassen hatte. Obwohl Historiker Butenandt keine eindeutige antisemitische Einstellung nachweisen konnten, ist dennoch bekannt, dass er 1936 in die NSDAP eintrat, dem NS-Lehrerbund angehörte und in, wie es auf der Uni-Wien-Website heißt, „zweifelhafte wissenschaftliche Versuche verwickelt“ war. Dabei ging es unter anderem um blutbildungs­fördernde Mittel und „spezifische Eiweißkörper“, Blutproben stammten unter anderem aus dem Konzentrationslager Auschwitz. Weitere Einzelheiten zu den Versuchen können nicht mehr rekonstruiert werden, denn auch auf Initiative Butenandts hin wurden die meisten Dokumente vernichtet. Nach dem Krieg verteidigte Butenandt die involvierten „Wissenschaftler“, Otmar Freiherr von Verschuer und Josef Mengele.

Botaniker und Hakenkreuz-Unterstützer

Als „kämpferischer Deutsch­nationaler“ gilt auch Hans Molisch, der bis zu seiner Emeritierung 1928 das Pflanzen­physiologische Institut der Uni Wien leitete. Er schrieb mehrere Lehrbücher, etwa zur „Mikrochemie der Pflanze“ und der „Anatomie der Pflanze“, und gilt aus Pionier der Allelopathie – die biochemische Wechselwirkung zwischen Pflanzen untereinander und zwischen Pflanzen und Mikroorganismen. Die noch heute bekannte Molisch-Probe dient als Nachweis für Kohlenhydrate. An der Universität Wien unterstützte er das antisemitische und deutschnationale Klima und verurteilte als Rektor nur zögerlich die Angriffe nationalsozialistischer Studenten auf jüdische und linke Kommilitonen im Jahr 1927, die in den 1930er-Jahren in Gewalt­exzesse mit mehreren Verletzten umschlugen.

Ein Pflanzenforscher mit NS-Biografie ist auch der ehemalige Leopoldina-Präsident Kurt Mothes. In den 1920er-Jahren studierte er Chemie und Pharmazie, später Physiologie und Pharmakologie an der Uni Leipzig und promovierte 1925 „Über den Stoffwechsel der Säure­amide in höheren Pflanzen“. Anschließend zog es ihn an die Uni Halle, 1935 wurde Mothes Professor für Botanik und Pharmakologie an der Universität Königsberg (heute Kaliningrad). Nach dem Krieg arbeitete er am Institut für Kulturpflanzenforschung in Gatersleben und wieder an der Uni Halle. Mothes erreichte Bekanntheit vor allem durch seine Forschung an Pflanzenhormonen und Alkaloiden, 1963 erhielt er den deutschlandweit ersten Lehrstuhl für Pflanzen­biochemie. Während der NS-Zeit trat er der NSDAP bei und war ab 1935 auch Mitglied des NS-Dozentenbundes. In einem Vortragsband der Leopoldina heißt es: „Mothes engagierte sich bereits in Halle, vor allem aber in Königsberg durchaus deutlich im Sinne der NS-Machthaber“. Im von ihm gegründeten Forschungskreis zur Erforschung Ostpreußens arbeitete er, laut Uni Wien, unter anderem auch mit Erich Koch zusammen, Gauleiter der NSDAP in Ostpreußen.

Sehr wahrscheinlich werden bei genauer Betrachtung noch mehr Wissenschaftler mit dunklen Flecken in ihrer Biografie auftauchen, so die Uni Wien. „Generell kann bei einer Universität dieser Größe ein Aufarbeitungsprozess notwendigerweise nur ein ‚Work in Progress‘ sein, der auch noch in Zukunft zu neuen Erkenntnissen und Schlussfolgerungen führen wird, sei es retrospektiv auf die bisherige Ehrungspraxis, oder prospektiv im Hinblick auf Erkenntnisse für die gegenwärtige und zukünftige Ehrungspraxis.“

Kathleen Gransalke

Bild: Archiv der Universität Wien


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Letzte Änderungen: 09.11.2023