Editorial

Evolution ist einfach?
Augenblick mal!

(29.09.2023) Wer meint, Evolution lasse sich durch das Prinzip "Variation und Selektion" leicht verstehen, sollte mal versuchen, den Verlust gewisser Fischaugen zu erklären.
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Eigentlich klingt das Kernprinzip von Darwins Evolutionstheorie recht simpel: Die Variation der Individuen innerhalb einer Population führt dazu, dass sich jeweils die bestmöglich an ihre Umwelt angepassten („fittesten“) Varianten am zahlreichsten fortpflanzen – was wiederum zur Folge hat, dass sich deren vorteilhaftere Eigenschaften nach und nach in der gesamten Population durchsetzen. Variation mit nachfolgender Selektion also.

Dennoch wird es sehr schnell kompliziert, wenn Biologen einzelne Evolutionsereignisse verstehen wollen.

Nehmen wir etwa das Beispiel von Populationen, die in dunkle Lebensräume übersiedeln. In den meisten Fällen büßen sie relativ schnell ihre Sehfähigkeit ein – sodass sie am Ende des evolutionären Anpassungsprozesses oftmals gar keine funktionierenden Augen mehr ausbilden. Quer durch das gesamte Tierreich ist das zigfach unabhängig voneinander passiert – bei Käfern, Schnecken oder Salamandern bis hin zum Nacktmull.

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Keine Defekt-Mutationen

Das Paradebeispiel der Wissenschaft sind jedoch höhlenbewohnende Fische – und hier insbesondere die blinden Höhlensalmler des Artkomplexes Astyanax mexicanus. Vor zwei bis drei Millionen Jahren zogen sich deren Vorfahren aus den lichten Wassern mexikanischer Seen tiefer in deren dunkle Höhlen zurück – und verloren im Laufe der nächsten Generationen peu à peu ihr Augenlicht.

Da die Forschung bereits geklärt hatte, welche molekularen Mechanismen bei Nacktmullen für eine derartige evolutionsgeschichtliche Erblindung sorgten, vermutete man die gleichen Ursachen auch beim Höhlensalmler am Werk: Demnach hatten deren Vorfahren nach und nach Mutationen in Genen angehäuft, die an der Augenentwicklung beteiligt sind – wodurch sie am Ende ihre Sehfähigkeit einbüßten. Diese „Defekt-Mutationen“ konnten sich jeweils ungehindert in der gesamten Population ausbreiten, da sie den betroffenen Individuen im Höhlendunkel keine Nachteile einbrockten. Denn wie viele Nachkommen ein Fisch in dauernder Dunkelheit produziert, hängt schließlich nicht davon ab, ob er etwas sieht oder nicht.

Blind trotz Durchmischung

Damit ist jedoch nicht erklärt, warum „Blindheit“ letztlich durchgehend in den Höhlen-Populationen fixiert wurde. Dazu muss noch eine selektionierende Triebkraft hinzukommen. Doch auch hier waren sich die Fischforscher schnell einig: Individuen ohne Augen haben dort, wo keine Augen gebraucht werden, nicht nur keine Nachteile, sondern sogar Vorteile. Schließlich kostet es einige Stoffwechselenergie, Augen auszubilden und sie zu benutzen, und die kann man im Dunkeln sicher sinnvoller investieren – zum Beispiel in den Nahrungserwerb. Die logische Folge: Aufgrund ihrer höheren „Höhlen-Fitness“ produzieren die blinden Energiesparer mehr Nachkommen als ihre sehenden Artgenossen, sodass deren Anteil über die Generationen immer weiter steigt – bis am Ende die Augenentwicklung komplett aus der Population ausradiert ist.

Klingt plausibel. Vor sechs Jahren jedoch verkündete ein US-Team, dass die Sache wohl doch komplizierter ist (BMC Evol. Biol. 17: 45). Das Dumme ist nämlich, dass die blinden Höhlensalmler niemals isoliert waren. Bis heute leben andere Subpopulationen von Astyanax direkt bei den Höhlenausgängen im helleren Wasser. Diese schwimmen immer wieder sehenden Auges in die Höhlen hinein und verpaaren sich in den Überschneidungszonen mit ihren blinden Artgenossen. Dennoch ist der Selektionsdruck in den Höhlen hoch genug, dass die dort lebenden Subpopulationen strikt blind bleiben.

Einfach zum Licht schwimmen

Also modellierten die Forscherinnen und Forscher die ganze Situation im Computer – und enthüllten durchaus Verblüffendes: Der Selektionsdruck zugunsten eines blinden Höhlenlebens resultiert zwar auch, aber nicht nur aus Vorteilen beim Energiehaushalt. Vielmehr verbleiben der „blinde“ und der „sehende“ Genotyp populationsmäßig deswegen so effektiv getrennt voneinander, weil diejenigen Nachkommen, die sehen können, einfach zum Licht schwimmen und die Höhle verlassen.

Also haben wir jetzt schon zwei selektionierende Triebkräfte – und das Gesamtszenario ist um einen weiteren Parameter komplizierter geworden.

Damit aber nicht genug. Natürlich interessierte die Evolutionsbiologen auch, welche Gene genau in den Vorfahren der blinden Salmler abgeschaltet wurden. Umso größer war die Überraschung, als ein Biologenteam die DNA-Sequenzen von sehenden und blinden Höhlensalmlern verglich – und zunächst keinerlei Aktivität verändernden Unterschiede fand. Sämtliche Gene, die bekanntlich bei der Augenentwicklung mitspielen, waren bis auf wenige, unerhebliche Unterschiede gleich. Insbesondere fanden die Forscher keine Mutation, die auch nur eines davon unbrauchbar gemacht hätte (Adv. Genet. 95: 117-59).

Kaum Genetik, aber Epigenetik

Nach der puren Sequenz-Information lagen bei den blinden Fischen folglich alle „Augen-Gene“ in potenziell aktiver Form vor. Dennoch sind sie es nicht.

Des Rätsels Lösung lieferte schließlich die sogenannte Epigenetik. Wie die Fischforscherinnen und -forscher fanden, wurden die entsprechenden Gene in den Höhlensamlmer-Vorfahren nicht durch Sequenz-Veränderungen abgeschaltet, sondern durch Ankoppeln von chemischen Anhängseln in Form von Methyl-Gruppen (Nat. Ecol. Evol. 2: 1155-60). Durch diese epigenetische Modifikation konnten die Gene trotz unveränderter Sequenz nicht mehr abgelesen werden. Ein Mechanismus, den Zellen übrigens generell zum gezielten Abschalten von Genen nutzen.

Jedoch werden solche epigenetische Methylierungsmuster nicht an die Nachkommen weitergegeben, da kurz nach der Befruchtung das komplette Erbgut nahezu unmethyliert vorliegt. Warum aber kommen die Nachkommen der Höhlensalmler trotzdem Generation für Generation ohne Augen auf die Welt?

Hier kommt schließlich doch eine Mutation ins Spiel. Das Team spürte diese ausgerechnet in der Steuerregion eines Gens auf, welches für ein Enzym kodiert, das ebensolche Methylgruppen an DNA-Stränge koppelt. Aufgrund dieser Mutation produzieren die Blindfische einen deutlichen Überschuss dieses Enzyms, welches dann durch Über-Methylierung das Abschalten der Gene für die Augenentwicklung besorgt.

Kein Blut zur rechten Zeit

Doch auch das ist immer noch nicht das Ende der Geschichte. Vor drei Jahren fand wieder ein anderes Team von Forschenden eine weitere Mutation in den blinden Höhlensalmlern, die ebenfalls über einen Umweg bei der Blockade der Augenentwicklung mitzuspielen scheint (Nat. Commun. 11: 5458). Die Mutation sitzt in dem Gen für ein Enzym namens Cystathionin-ß-Synthase A und unterbindet dessen Produktion. Ohne dieses Enzym aber unterbleibt die Durchblutung der Augenknospen in einer entscheidenden Entwicklungsphase der Fischembryonen, sodass keine funktionellen Augen entstehen können.

Womit die Lehre aus dem Beispiel des blinden Höhlensalmlers letztlich klar sein dürfte: Evolution funktioniert zwar generell nach dem einfachen Grundprinzip von Variation und Selektion – aber die Mechanismen, durch die Variationen überhaupt entstehen, können durchaus sehr komplex sein.

Ralf Neumann

(Foto: Daniel Castranova, NICHD/NIH)

 

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Letzte Änderungen: 28.09.2023