Editorial

Wie geht Wissenschaft?

(22.09.2023) – Ein kleines Gedanken-Seminar am Beispiel des Hörvermögens von Insekten.
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Zunächst einmal: Was ist überhaupt Wissenschaft? Die Mehrheit derer, die kompetent darüber nachdachten, antwortete salopp formuliert folgendes:

Wissenschaft ist eine Methode, mit der wir Erkenntnisse über die Welt erlangen. Und über all die Zeit hat sie sich als die beste und zuverlässigste Methode für diesen Zweck etabliert.

„Nur“ eine Methode also? Die lediglich Erkenntnisse produziert? Klingt vielleicht ein wenig enttäuschend. Doch Vorsicht vor allzu schneller Abwertung. Schauen wir uns lieber erstmal genauer an, wie die wissenschaftliche Methode funktioniert – und nehmen zum Durchexerzieren das Hörvermögen der Insekten.

Am Anfang der wissenschaftlichen Methode steht in aller Regel die Beobachtung. Dass wir Menschen mit intakten Ohren hören können, erfährt ein jeder selbst jeden Tag – dennoch wäre das schon mal eine Beobachtung. Insekten haben allerdings keine offensichtlichen Ohren, so wie wir sie kennen. Ob sie aber trotzdem hören?

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Hören ohne Ohren

Wir müssen also zunächst überlegen, wie sich am besten beobachten ließe, ob Insekten überhaupt hören können. Dazu reichen womöglich weitere – genauere – Beobachtungen. Falls uns jedoch reines Beobachten nicht weiterbringt, müssen wir erste Experimente entwerfen, mit denen wir die erforderlichen Beobachtungen quasi provozieren. Und im Idealfall können wir als Resultat tatsächlich Beobachtungen beschreiben, die uns zweifelsfrei die Erkenntnis bescheren: Insekten können hören – oder auch nicht. 

All dies ist natürlich schon lange geschehen – sodass heute jeder die Antwort kennt: Grundsätzlich können sie es! Und zwar nicht nur diejenigen, die selbst Laute erzeugen – nein, auch viele „stumme“ Insekten hören.

Damit ist die Phase des Beobachtens und experimentellen Beschreibens aber nicht vorbei, denn noch ist offen: Womit hören sie, wenn sie schon keine Ohren haben? Kurz gesagt, auch diese Beobachtungen sind schon lange gemacht: Bis auf wenige Ausnahmen hören Insekten mit ihren sogenannten Tympanalorganen.

Beobachten und Beschreiben, wenn nötig mit Hilsmitteln

Um jetzt deren Funktionsweise zu beschreiben, musste indes zunächst eine besondere experimentelle Technologie entwickelt werden: die Mikroskopie. Erst diese offenbarte der Forscherwelt, dass die Tympanalorgane in der Regel aus umgewandelten Mechano-Rezeptoren bestehen – Scolopidien genannt –, die auf der Innenseite einer verdünnten Region der Außenhaut – der Cuticula – sitzen. Diese dünne Cuticula-Membran spannt sich wiederum über die Öffnung einer erweiterten Trachee, also eines insektentypischen „Atemrohrs“. Resultat ist eine Art Trommelfell (Tympanum) mit darunter liegender Resonanzkammer. Wird die Trommelfell-Membran nun von Schallwellen getroffen, schwingt sie frei zwischen Außenluft und Tracheen-Resonanzkammer, die Sinneszellen der Scolopidien fangen an zu feuern – und das Hörsignal geht los.

Klar – um Letzteres herauszukriegen, waren zum mikroskopischen Beobachten auch einige zielführende Experimente nötig. Dennoch war damit immer noch nicht fertig beobachtet. Denn als man verschiedene Insekten nach Tympanalorganen und Trommelfellen absuchte, fand man sie bisweilen an den komischsten Stellen: an den Vorderbeinen, an den hinteren Brustsegmenten, an der Flügelbasis, auf den Flügeln selbst, am Hinterleib, unterhalb der Mundwerkzeuge,...

Hypothesen her, aber bitte nur testbare!

Diese Beobachtungen drängte den Wissenschaftlern eine bestimmte Frage förmlich auf: Deuten diese verschiedenen Positionen darauf hin, dass sich die Tympanalorgane der Insekten im Laufe der Evolution womöglich mehrfach unabhängig voneinander entwickelt haben? Womit wir  bei einem weiteren Kernstück der wissenschaftlichen Methode angekommen wären: nämlich der Hypothesenbildung. Denn statt als Frage kann man das Szenario einer mehrfach unabhängigen Evolution der Tympanalorgane auch als Hypothese formulieren – die heutzutage überdies gut testbar ist.

So banal es womöglich klingt, aber gerade diese Testbarkeit ist sehr wichtig. Denn im Rahmen der wissenschaftlichen Methode nützt eine Hypothese nur dann etwas, wenn ich sie mit klaren Experimenten testen kann. Schließlich kann ich mit etwas Fantasie im Stundentakt eine Hypothese nach der anderen auf einen Schmierzettel kritzeln – wie etwa die Hypothese, dass es irgendwo im Universum intelligente Lebewesen gibt, die wie Seegurken aussehen. Nur ist diese für die Wissenschaft völlig wertlos, da sie sich mit unseren heutigen Mitteln nicht testen lässt. Ganz abgesehen davon, dass derzeit auch keine Beobachtungen beschrieben sind, aus denen sich eine derartige Hypothese ableiten ließe.

Jetzt sind Kausalfragen möglich

Die Hypothese, dass Tympanalorgane während der Evolution der Insekten mehrfach unabhängig voneinander entstanden sind, ließ sich dagegen mit Methoden aus verschiedenen biologischen Disziplinen sehr gut und umfassend testen – und wird immer noch weiter getestet. Momentaner Stand: Offenbar sind Tympanalorgane in den verschiedenen Insektenlinien mindestens siebzehn Mal unabhängig voneinander entstanden.

Doch es geht noch weiter. Seit Darwins Evolutionstheorie die bis dahin nahezu rein beschreibende Biologie in den Status einer Kausalwissenschaft erhoben hat, lautet deren Königsfrage in den meisten Fällen: Warum und wozu hat sich etwas entwickelt? Warum können Insekten also hören? Womit wir ein weiteres Mal bei der Hypothesenbildung angekommen wären.

Natürlich dienen Insektenohren heutzutage auch der innerartlichen Kommunikation. Doch war man sich schnell einig, dass dies nicht der ursprüngliche Auslöser war, vor langer Zeit das Hörvermögen einzuführen. Als plausibelste Hypothese galt den Experten vielmehr, dass sich das Insektengehör als Folge des Auftretens echoortender – und bekanntlich Insekten-fressender – Fledermaus-Vorfahren entwickelte. Denn wer deren Ultraschalllaute schon von weitem hört, hat deutlich höhere Chancen, kein Opfer der Nachtjäger zu werden – und sich weiter fortzupflanzen.

Falsifikation als Erkenntnisfortschritt

Seitdem wurde in experimentellen Tests fleißig positive Evidenz für diese Hypothese gesammelt – etwa dass Insekten tatsächlich Fledermaus-Ultraschallfrequenzen hören können und anderes mehr. Dennoch, so solide die Hypothese damit inzwischen unterfüttert schien – vor einigen Jahren ist sie durch einen einfachen Fossilfund geplatzt: US-Forscher gruben gut erhaltene Grillen und Heuschrecken aus, deren Vorderbeine Tympanalorgane trugen; dummerweise lebten diese aber bereits vor über 50 Millionen Jahren, und damit lange bevor die ersten Fledermäuse flogen.

Ein typischer Fall von „Ätsch“, könnten Schadenfrohe jetzt meinen. Doch halt, genau so funktioniert Wissenschaft! Auch wenn es letztlich falsifiziert wurde, hat das Fledermaus-Szenario der Wissenschaft gute Dienste als Arbeitshypothese geleistet. Denn definitiv zu wissen, dass sie nicht zutrifft, ist ein klarer Erkenntnisfortschritt. Und die nächste Hypothese zur Evolution des Insektenhörens wird zwangsweise deutlich stärker sein.

Ralf Neumann

(Illustr.: Clipart Library)

 

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Letzte Änderungen: 22.09.2023