Von Wurzeltiefe bis Fotosynthese-Kapazität
(11.09.2023) „It’s nuts but we try anyway“, sagten sich 2007 Jens Kattge und Kollegen. Daraus entstand die TRY-Datenbank mit Daten zu 310.000 Pflanzen.
Mit der TRY-Datenbank soll möglichst jede Pflanzenspezies umfassend mit ihren Merkmalen erfasst werden. Jens Kattge (im Bild) vom Max-Planck-Institut für Biogeochemie in Jena koordiniert das Projekt. Er leitet die Forschungsgruppe Funktionelle Biogeografie und ist einer der 30 meistzitierten Köpfe in unserem aktuellen Ranking zur Tier- und Pflanzenökologie. Im Gespräch erklärt uns Kattge, wie TRY den Pflanzenökologen bei ihrer Arbeit hilft, und welche Schnittmengen mit den Klimaforschern bestehen.
TRY wurde 2007 ins Leben gerufen. Auch vorher gab es schon Datenbanken zu Pflanzeneigenschaften, doch Sie wollten eine Art Meta-Datenbank schaffen. Was genau ist das Besondere an TRY?
Jens Kattge: In der TRY-Datenbank werden Pflanzenmerkmale der unterschiedlichen Arten gesammelt. Einfachste Pflanzenmerkmale wären zum Beispiel der Pflanzentyp, wie Baum, Strauch oder Kraut. Es gibt ungefähr 400.000 erwartete Pflanzenarten auf der Welt. Als wir 2007 angefangen haben, waren diese einfachen Pflanzenmerkmale auf verschiedene Datensätze verteilt und nicht an einer Stelle zentriert gesammelt. Ökologische Institute haben diese Informationen damals bereits gesammelt, aber es war noch nicht so üblich, diese Daten öffentlich zur Verfügung zu stellen. Die lagen dann lokal an den Instituten vor und waren nur dort direkt verfügbar.
Darüber hinaus gibt es weitere Pflanzenmerkmale, die wir besonders interessant finden: Fotosynthese-Kapazität, Atmungsaktivität oder die Abhängigkeit beider Größen von der Wachstumstemperatur. Oder Stickstoff- und Phosphorkonzentrationen in Blättern und anderen Pflanzenorganen, oder die Wurzeltiefen. 2004 kam eine Publikation in Nature heraus, die wegweisend war für viele weitere Entwicklungen – über das weltweite Spektrum der Blattökonomie (428(6985): 821-7). Dafür hatten verschiedene Arbeitsgruppen ihre Daten zu Pflanzenmerkmalen auf Blattebene zusammengefügt. Es stellte sich eine Korrelation heraus, die man im Grunde sehr einfach beschreiben kann: Entweder sind die Blätter dünn und wachsen schnell, oder sie werden dick und stabil angelegt und sind dann länger haltbar. Diesem ökonomischen Trade-off sind alle Pflanzenarten unterworfen. Das hat Konsequenzen für Stickstoffgehalt, Phosphorgehalt, Fotosynthese-Kapazität und all die anderen Merkmale. Diese Publikation wurde oft zitiert, und das führte dazu, dass Pflanzenökologen gesehen haben: Es ergibt Sinn, diese Daten über verschiedene Institute hinweg zusammenzuführen.
Sind die Daten in TRY für jeden frei verfügbar?
Kattge: Zunächst hatten wir uns, gemeinsam mit Christian Wirth, jetzt Uni Leipzig, dafür entschieden, die Datenbank nur freizugeben für Forscher, die auch Daten beigesteuert haben, um einen gewissen Anreiz zu schaffen. 2007 haben wir damit begonnen, wirklich einzelne Forscher per E-Mail anzuschreiben. Wir baten darum, dass sie uns ihre Daten zusenden. Das war nicht ganz einfach. So ist auch der Name „TRY“ entstanden. Nach dem Motto: „We know it’s nuts but we try anyway“.
TRY steht also für sich und ist kein Akronym, das sich aus irgendeiner weiter ausformulierten Bezeichnung ableitet?
Kattge: Nein. Obwohl „TRY“ phonetisch natürlich schön zum Wort „Traits“ passt. Die erste Publikation dazu haben wir 2011 veröffentlicht (Glob Chang Biol, 17(9): 2905–35). Und zur Jahreswende 2014/15 waren wir mit der Infrastruktur dann so weit, dass wir die TRY-Daten frei verfügbar machen konnten.
Berücksichtigt TRY auch Unterschiede einer Spezies über die Regionen hinweg? Oder Unterschiede in einem Biotop für eine Art über die Zeit? Denn Parameter wie Blattdicke könnten sich ja auch über die Jahre ändern, sodass diese räumliche und zeitliche Dynamik spannend wäre.
Kattge: Ja, diese Informationen nehmen wir mit auf. Die sogenannten kategorialen Merkmale wie Baum, Strauch, Gras oder Kraut verändern sich eigentlich nicht über die Zeit und auch nicht zwischen den Individuen einer Art. Aber gerade physiologische Merkmale wie Fotosynthese-Kapazität und chemischer Substanzgehalt der Blätter variieren stark in Raum und Zeit. Hier unterscheiden sich die verschiedenen Individuen derselben Art, und das versuchen wir, in der Datenbank abzubilden.
Wie viele der 400.000 prognostizierten Pflanzenarten sind denn in der Datenbank berücksichtigt?
Kattge: Im Moment ungefähr 310.000 Arten. Natürlich haben wir für die meisten Arten nicht alle Eigenschaften erfasst. Die Datenbank berücksichtigt etwa 2.500 verschiedene Merkmale. Für einige Merkmale wie die Wuchsform haben wir um die 300.000 Arten charakterisiert. Für andere Merkmale gibt es nur ganz wenige Daten in der Datenbank.
In unserer Publikationsanalyse stellten wir fest, dass sich der Klimawandel zunehmend in den Keywords niederschlägt. Inzwischen taucht „Climate Change“ sogar häufiger auf als „Genomics“. Bemerken Sie das auch bei Ihren Projekten?
Kattge: Dieser Aspekt ist mir direkt aufgefallen bei der Liste, die das Laborjournal erstellt hat. Unser Institut ist mit drei Forschern vertreten. Die beiden anderen, Markus Reichstein und Sönke Zaehle, beschäftigen sich mehr mit dem direkten Einfluss des Klimas auf die Vegetation. Hier sehen wir die Überlappung von Ökosystemökologen und Pflanzenökologen sehr deutlich.
Klimaforschung ist ja sehr stark getrieben von den Klimamodellen. Klimamodelle haben in ihrer Anfangsphase die Erdoberfläche im Prinzip nur als Randerscheinung betrachtet. Das war aufgrund der Rechenzeit und Datenlage auch nicht anders möglich. Aber mittlerweile hat man festgestellt, dass es eine sehr starke Interaktion gibt zwischen Klima und der Vegetation an einem Ort. Beides beeinflusst sich wechselseitig. In dem Zusammenhang wissen wir auch, dass erhöhte CO2-Konzentrationen in der Atmosphäre die ganzen Fotosynthese-Eigenschaften der Pflanzen beeinflussen. Durch solche Erkenntnisse hat es einen sehr starken Forschungsschub in Richtung Pflanzenökologie gegeben. In letzter Zeit kommt verstärkt der Aspekt der Biodiversität dazu. Denn ein Ökosystem ist ein Konglomerat aus verschiedenen Arten. Verschiedene Pflanzenarten reagieren unterschiedlich auf Klimaveränderungen – diese Reaktion ist eher arttypisch als ökosystemtypisch. Das Ökosystem ergibt sich aus der Vielzahl der verschiedenen Arten, die dort vorkommen: Tiere, Pflanzen, Mikroorganismen, auf der Basis von Boden und Klima. Und diese Biodiversität kann man bei den Pflanzen dann auch durch die Pflanzenmerkmale wieder ein Stück weit abbilden und den Vegetationsmodellierern zur Verfügung stellen.
Politisch steht der Klimawandel ja auf der Tagesordnung, weil der Mensch und seine Lebensgrundlagen bedroht sind. Die Pflanzenökologen aber schauen ja auch als Grundlagenforscher auf diese Entwicklungen. Warum ist es wichtig, nicht nur den Menschen und seine Kulturpflanzen in den Mittelpunkt zu stellen?
Kattge: In Deutschland haben wir eine sehr stark bearbeitete Landoberfläche. Es gibt kaum Bereiche, die naturbelassen sind. Die Ökosysteme haben aber eine große Bedeutung über die Ernährung und den agrar- und forstwirtschaftlichen Nutzen hinaus. Sie stellen uns sozusagen Dienstleistungen zur Verfügung, die wir in Anspruch nehmen können, ohne dafür etwas zu bezahlen. Dazu gehört das Filtern von Wasser und der Einfluss von Vegetation auf lokales und regionales Klima durch Verdunstung. Diese Ökosystemfunktionen sind letztendlich sehr wichtig für die Bevölkerung.
Kann sich Biodiversität denn nachweislich positiv auswirken auf lokale Effekte der Klimaveränderungen? Oder wird nicht auch die größte Biodiversität früher oder später einknicken, wenn die Klimaänderungen erst einschneidend genug sind?
Kattge: Beides ist richtig. Es gibt eine ganze Reihe von Publikationen, die zeigen, dass funktionelle Biodiversität – also die Unterschiedlichkeit der Merkmale aller Arten vor Ort – die Anpassung eines Ökosystems an Klimaveränderungen begünstigen. Und funktionelle Biodiversität ist natürlich stark verknüpft mit einer Vielfalt an Arten, denn verschiedene Arten haben wahrscheinlich auch verschiedene Merkmale. Um kurzfristig auf Störungen und Extremereignisse zu reagieren, sind funktionelle Biodiversität und Artenvielfalt also hilfreich. Wenn aber die Störungen zu stark sind, dann überschreibt das auch die größte Biodiversität.
Das Gespräch führte Mario Rembold
Bild: Pixabay/Ralphs_Fotos (Hintergrund) & J. Kattge
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