Editorial

Ding, dong,
Ihre Genfracht ist da!

(07.09.2023) Retinitis pigmentosa oder Herzschwäche könnten bald per Gentherapie behandelt werden – dank optimierter Adeno-assoziierter Viren als Vektoren.
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Robert W. Atchison, Bruce C. Casto und William M. C. D. Hammon staunten wahrscheinlich nicht schlecht, als sie sich die Kultur eines Affen-Adenovirus genauer anschauten. Dort tummelten sich neben den Viren auch „DNA-haltige Partikel“, die sich sogar vermehrten. Allerdings nur, wenn auch gleichzeitig Adenoviren in der Nähe waren. „This suggests that these adenovirus-associated particles behave as defective viruses.“ (Science, 149(3685): 754-6).

Das Ganze spielte sich Anfang der 1960er-Jahre unter anderem an der Uni Pittsburgh ab. Bei den Partikeln handelte es sich, wie wir heute wissen, um Parvoviridae, zugehörig zur Gattung der passend benannten Dependo­parvoviren. Spannend dabei: obwohl diese Adeno-assoziierten Viren (AAV) Säugerzellen entern können, werden die Infizierten nicht krank. Genau wegen dieser Harmlosigkeit interessierte sich jedoch zu Beginn nur eine Handvoll Forscher für diese einzel­strängigen DNA-Viren. Anfang der 1980er-Jahre kam jedoch die Idee auf, mit diesem Virus Gene zu therapeutischen Zwecken in menschliche Zellen einzuschleusen. Mitte der 1980er-Jahre beschrieben Forscher die ersten AAV-Vektoren.

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Zolgensma und Luxturna

Heute setzen viele Medikamenten­entwickler bei ihren Gentherapien auch auf AAV als Lieferboten. Unter anderem Novartis für Zolgensma (oder Onasemnogene abeparvovec). Das teuerste Medikament der Welt repariert den Verlust des SMN-Proteins bei Patienten mit spinaler Muskel­atrophie. Verwendet wird hierfür ein Adeno-assoziiertes Virus vom Serotyp 9, oder vielmehr dessen Hülle, das Capsid.

Seit 2018 ist auch Luxturna (Voretigene neparvovec) in der EU zugelassen. Dieses Gentherapeutikum mit einem AAV-Vektor vom Serotyp 2 stellt in Zellen der Netzhaut die Bildung des Enzyms Retinoid-Isomero­hydrolase (RPE65) wieder her. Ohne das Enzym erblinden Betroffene mit defektem RPE65-Gen. Appliziert werden muss das Ganze allerdings „subretinal“ und das klingt genauso kompliziert und unangenehm wie es ist. Dafür muss die äußere Netzhaut chirurgisch vom retinalen Pigment­epithel abgelöst werden, es entsteht ein Hohlraum, ein subretinales Bläschen (engl. Subretinal bleb). In diesen Hohlraum wird das Therapeutikum injiziert. Das aufwendige Prozedere liegt vor allem am verwendeten AAV-Vektor, der sich in unmittelbarer Nachbarschaft befinden muss, um die anvisierten Zellen zu infizieren. Wenn man doch nur etwas am Virenvektor rumschrauben könnte ...

Bibliothek mit Millionen Varianten

Genau das hat das Planegger LMU-Spin-off ViGeneron in den letzten Jahren erfolgreich getan. Das Ergebnis ist VG901 zur Behandlung der CNGA1-assoziierten Retinitis pigmentosa. Im August stellten die Bayern bei der Europäischen Arzneimittel­agentur einen Antrag auf klinische Prüfung. VG901 muss nicht subretinal verabreicht werden, eine Injektion des Gentherapeutikums in den Glaskörper, also intravitreal, reicht aus. „Dies ist ein wichtiger Schritt auf unserem Weg, mit einer neuartigen Gentherapie potentiell das Augenlicht von Patienten mit angeborenen CNGA1-Mutationen zu retten. Für sie gibt es derzeit keine Behandlungs­möglichkeit“, so CEO und Mitgründerin Caroline Man Xu in einer Pressemitteilung. CNGA1 codiert für eine Untereinheit des CNG-Ionenkanals in Stäbchen-Photorezeptoren.

Für das Therapeutikum verwendete ViGeneron eigens modifizierte AAV-Vektoren, sogenannte vgAAV-Vektoren. Dabei handelt es sich um, wie es auf der Firmenwebsite heißt, „uniquely engineered AAV capsids with novel properties“. Hergestellt werden sie per „in vivo directed evolution“. Wie das aussehen kann, beschrieben unter anderem die Mitgründer und LMU-Professoren Martin Biel und Stylianos Michalakis in einem EMBO-Medicine-Paper (13:e13392). „We employed a random peptide-display library using the AAV2 capsid as scaffold, where a random 7-mer amino acid sequence was inserted between N587 and R588. The resulting library with approximately 5 million unique variants was […] then injected intravenously into adult C57BL6/J mice (2-months old).“ Bereits nach 24 Stunden schauten Michalakis und Co. nach, welche viralen Varianten es bis in die Netzhaut geschafft hatten. Nach mehreren Screening-Runden erwiesen sich zwei Vektoren, AAV2.GL and AAV2.NN, als besonders gut geeignet, Photorezeptoren anzusteuern und zu entern.

Gene gibt’s genug

Probleme mit der Zielfindung haben auch Gentherapien, die auf das Herz abzielen. „Während das Prinzip der Gentherapie vor Jahrzehnten in der Akademie entwickelt wurde und sich das enorme therapeutische Potenzial bereits in der erfolgreichen Zulassung von Gentherapeutika in den USA und Europa dokumentiert, ist für den Herzpatienten bisher nichts in der Klinik angekommen“, bedauert Patrick Most, Gründer und CEO von AaviGen sowie Chef der Sektion Molekulare and Translationale Kardiologie am Uniklinikum Heidelberg in einem Beitrag von BIOPRO Baden-Württemberg. Schuld ist mal wieder der unpräzise AAV-Vektor, denn geeignete therapeutische Gene gibt es, Most zufolge, genügend.

AaviGen entwickelt deshalb herzspezifische, rekombinante AAV-Vektoren, die zielgerichtet ihre Fracht nur in myocardialen Zellen abliefern. Dafür verändert das Team die Vektoren genetisch und molekular. Wie genau? Das wollten wir von AaviGen wissen. Eine E-Mail-Nachfrage unsererseits blieb jedoch unbeantwortet. Laut verschiedener Presse­mitteilungen spielen jedoch eine „next-generation Cardiac AAV Platform“ (next-CAP) und auch Cardiomyocyten-spezifische Promoter eine gewichtige Rolle. Mit Letzteren soll die Expressions­spezifität und Expressions­stärke der Genkassette zusätzlich aufgemotzt werden.

Mehr als 70 AAV-Capside hat AaviGen auf diese Weise schon kreiert. Darunter auch solche, die sich auf zwei verschiedene Organsysteme auswirken können. So ließen sich etwa auch Krankheiten ins Visier nehmen, bei denen das Herz nur sekundär betroffen ist. Dazu zählt die Friedreich-Ataxie, bei der das mutierte, mitochondriale FXN-Gen in erster Linie neurologische Symptome auslöst, aber eben auch Cardio­myopathien. Das Genprodukt Frataxin wird von Motoneuronen, Pankreaszellen und Herzzellen exprimiert. AaviGens Therapeutika der Zukunft sollen sich aber nicht nur für die Behandlung von eher seltenen Krankheiten eignen, sondern für alle Erkrankungen des cardiovaskulären oder cardio­pulmonären Systems, genetisch bedingte wie erworbene. Eine weitere gute Nachricht: eine einmalige intravenöse Verabreichung soll genügen.

Noch drei Jahre bis zur Klinik?

Das Unternehmen mit Sitz in Heidelberg wurde 2019 gegründet. Neben Patrick Most ist auch Hugo Katus als Chief Medical Officer dabei. Bis 2020 war Katus ärztlicher Direktor der Klinik für Kardiologie, Angiologie und Pneumologie des Universitäts­klinikums Heidelberg. Bekannt ist er vor allem für die Beschreibung von Troponin T, die Entwicklung des Troponin-T-Assays für die Herzinfarkt-Diagnostik und von diversen Laborjournal-Rankings zur Herz- und Gefäßforschung. Chief Financial Officer Marc Lerchenmüller ist „zuversichtlich, dass wir in fünf Jahren den Zulassungs­prozess für die klinischen Tests der ersten Therapie einleiten können.“ Das sagte er in einem Interview von Juni 2021. Den Unternehmern bleibt also noch drei Jahre Zeit.

Most, Katus und Lerchenmüller haben bereits mit der InoCard GmbH versucht, eine Gentherapie für Patienten mit Herzinsuffizienz auf den Markt zu bringen. AAV-S100A1 sollte die Produktion des Calcium-bindenden Proteins S100A1 in Herzzellen wieder ankurbeln. 2014 ging das Knowhow an die niederländischen Gentherapie-Spezialisten von uniQure. Diese stellten das Entwicklungs­programm allerdings vier Jahre später wieder ein. „The data did not show a benefit on heart function at six months, and consequently, the Joint Steering Committee has chosen to discontinue work on S100A1“, so eine Pressemitteilung von 2018.

Mit AaviGen ist den Heidelberger Kardiologen hoffentlich mehr Marktglück beschieden. Zumindest Unternehmer und Investor Dietmar Hopp ist überzeugt, dass die Therapie „ein Game Changer werden kann“. Mehrere Millionen, zuletzt 17, hat er über seine Beteiligungs­gesellschaft DH-IT bereits beigesteuert.

Kathleen Gransalke

Bild: Pixabay/Alexas_Fotos


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Letzte Änderungen: 07.09.2023