Editorial

Abdichtung gegen
Muskelschwund

(06.07.2023) Mit einer 20 Jahre alten Idee will das Uni-Basel-Spin-off SEAL Therapeutics Menschen helfen, die an der seltenen LAMA2-Muskeldystrophie leiden.
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Die Gentherapie beinhaltet künstlich generierte Linker-Proteine, die die Gerüstfunktion von Laminin α2 ersetzen, das bei der LAMA2-Muskel­dystrophie fehlt. Unbehandelt führt die seltene Erkrankung immer zum frühen Tod Betroffener. CSO Judith Reinhard und CEO Markus Rüegg (beide im Bild) über die Limitierung klinischer Studien, miniaturisierte Protein­funktionen und langlebige Episome.

Frau Reinhard, Herr Rüegg, warum haben Sie eine Firma gegründet?
Judith Reinhard: Ich habe Biologie studiert und in Neurobiologie promoviert. Die Linker-Proteine waren mein Postdoc-Projekt, das ich im Labor von Markus Rüegg bearbeitet habe. Schlussendlich haben wir die Ergebnisse publiziert und ich dachte, wir können nicht einfach abschließen mit dem Satz: „Die Linker könnte man vielleicht für eine Therapie verwenden.“ Nein, ich wollte versuchen, das Projekt selbst voranzutreiben. Die schweizerische Agentur für Innovations­förderung Innosuisse hat uns bei der Weiter­entwicklung des Therapie­ansatzes unterstützt und danach haben wir das Start-up gegründet.
Markus Rüegg: Die Idee mit einem Linker haben wir schon vor etwa 20 Jahren publiziert, auch, dass man damit Defekte in Mäusen behandeln kann. Aber damals war es noch nicht möglich, diese Idee als Gentherapie umzusetzen. Da hat sich in den letzten Jahren viel getan. Und mit unseren Linkern sahen wir die Möglichkeit, wirklich Patienten behandeln zu können. Ursprünglich wollten wir das Projekt gemeinsam mit Santhera angehen. Die hatten dann aber eine negative Phase-3-Studie und mussten umstrukturieren. Also haben wir SEAL Therapeutics als Spin-off der Universität Basel gegründet, gemeinsam mit dem ehemaligen Santhera-CEO Thomas Meier als Berater.

Editorial

Beteiligt sich Santhera finanziell an SEAL Therapeutics?
Rüegg: Nein, das Geld kommt größtenteils von Patienten­organisationen.
Reinhard: Genau, das ist eine Schweizer Muskelstiftung, die in unsere Firma investiert und auch an ihr beteiligt ist.

Das hat damit zu tun, dass Sie eine Gentherapie zur Behandlung der kongenitalen Muskel­dystrophie des Subtyps 1A entwickeln. Was genau ist das?
Reinhard: Wir sagen auch LAMA2-Muskel­dystrophie. Früher war die Krankheit nicht so gut charakterisiert und wurde anhand von Nummern klassifiziert. Inzwischen kennen wir das betroffene Gen, eben LAMA2. Kinder mit dieser genetischen Muskelerkrankung zeigen direkt nach der Geburt Muskelschwäche. Oft lernen sie nie zu laufen. Weil alle Muskeln betroffen sind, entwickeln die Kinder irgendwann Atem­schwierigkeiten und sterben als Teenager oder junge Erwachsene. Bislang gibt es keine Therapie, nur unterstützende Behandlungen wie Physiotherapie.

Wie häufig tritt diese Erkrankung auf?
Reinhard: Wir gehen davon aus, dass eines von acht Millionen Kindern mit der LAMA2-Muskel­dystrophie geboren wird. In der Schweiz zum Beispiel kennen wir 20 Patienten. Es ist also eine wirklich seltene Erkrankung, aber mit einem „very urgent medical need“, weil es eben überhaupt nichts gibt, um diesen Kindern und Familien zu helfen.

Das ist perspektivisch für klinische Studien schwierig, oder? Schließlich sollten an diesen optimalerweise viele Patienten teilnehmen.
Reinhard: Ja, das ist bei vielen genetischen Krankheiten ein Problem und – denke ich – auch ein Grund, das Prinzip klinischer Studien neu zu überdenken. Allerdings zeigen die Erfahrungen mit anderen Gentherapien, dass die Effekte riesengroß sind und es manchmal dann sogar reicht, nur wenige Patienten zu behandeln.
Rüegg: Das liegt auch daran, dass wir den Verlauf der Krankheit gut kennen – und der ist immer schwer. Wenn man dann sehen würde, dass ein Kind trotz der Diagnose LAMA2-Muskel­dystrophie laufen lernt, wenn es eine Gentherapie erhält, dann ist das ein starker Effekt. Genau das erhoffen wir uns natürlich. Und das haben wir ja auch in den Mäuseversuchen beobachtet. Eine Maus mit der Krankheit stirbt zwischen zehn und 20 Wochen. Wenn wir sie behandeln, kann sie zwei, zweieinhalb Jahre leben. In Menschenjahre übertragen wären das 60 Jahre aufwärts. Den Mäusen geht es gut, sie sind größer und bewegen sich gut.

Wie ein Schalter, der umgelegt wird.
Reinhard: Genau. Man braucht dann nicht viel Statistik, wenn eine Maus – oder später ein Patient – eine Muskelfunktion zeigt, die in einem Organismus mit dieser Mutation ansonsten fehlt.

Die Muskeln funktionieren bei der LAMA2-Muskel­dystrophie nicht richtig, weil das Genprodukt von LAMA2 – Laminin α2 – fehlt. Wofür ist es zuständig?
Reinhard: Laminin α2 ist ein strukturelles Protein, das die Muskelfasern umhüllt. Als Teil der extrazellulären Matrix bildet es eine Art Gerüst. Fehlt Laminin α2, fehlt auch der Puffer, der die Muskeln vor mechanischen Belastungen schützt. Die Fasern degenerieren dann, sterben stellenweise ab. Das führt zu Entzündungen und Fibrosen, also Narbengewebe. Die Funktion der Muskeln geht nach und nach verloren.

Wie wollen Sie die Funktion von Laminin α2 wiederherstellen?
Reinhard: Ein Ansatz wäre, die codierende Sequenz für Laminin α2 in betroffene Zellen einzuschleusen. Allerdings ist diese sehr groß und die Vektoren nicht in der Lage, so lange DNA-Stücke zu transportieren. Also haben wir kleine Ersatzgene generiert, die das Gerüst, das die Muskelfasern umgibt, ein Stück weit ersetzt.

Das sind die besagten Linker?
Reinhard: Genau. Der eine heißt mini-agrin und enthält bestimmte Domänen des Proteins Agrin. Agrin ist wichtig für die Nerven-Muskel-Synapse. Der zweite Linker nennt sich αLNNd, zusammen­gesetzt aus Teilen von Laminin α1 und Nidogen-1. αLNNd wurde ursprünglich in einem anderen Labor in den USA entwickelt. Mit diesem kollaborieren wir seit vielen Jahren und irgendwann kam die Idee, beide Linker zu kombinieren.

Wie können aber zwei Linker die Funktion von Laminin α2 ersetzen?
Rüegg: Fehlt Laminin α2, wird ein anderes Laminin, nämlich α4, hochreguliert. Das umhüllt allerdings normalerweise nicht den Muskel, sondern ist in Blutgefäßen zu finden. Bei der LAMA2-Muskel­dystrophie wird Laminin α4 zwar in die extrazelluläre Matrix eingebaut, kann dort aber die Funktion von α2 nicht komplett übernehmen. Denn α4 bindet nicht an die Membran der Muskelfasern, und ihm fehlt die Fähigkeit zu polymerisieren. Der Linker mini-agrin verankert Laminin α4 nun an den Muskelfasern, während αLNNd dafür sorgt, dass diese verankerten Laminine Netzwerke bilden können. Damit lässt sich die Funktion von Laminin α2 kopieren.

Wie gelangt die genetische Information für die Linker in menschliche Zellen?
Reinhard: Wir nutzen virale Vektoren, deren genetische Ladung endozytotisch in die Zellen aufgenommen wird und in den Zellkern wandert. Dort integriert sich die Fremd-DNA allerdings nicht ins Genom, sondern bleibt als Episom bestehen, also eine Art DNA-Ring außerhalb der genomischen DNA. Das reduziert mögliche toxische Effekte, die auftreten können, wenn eingebrachte DNA etwa in Gene integriert und diese dadurch zerstört. Die Episome werden abgelesen und die Genprodukte sekretiert.

Wie stabil sind solche Episomen? Müssen Patienten regelmäßig nachspritzen lassen oder bleiben die DNA-Ringe an Ort und Stelle, bis die Zelle stirbt?
Reinhard: In Mäusen können wir mit unseren Konstrukten ja maximal zweieinhalb Jahre schauen, da Mäuse einfach nicht so lange leben. Es gibt aber Daten anderer Arbeitsgruppen, die zeigen, dass Episome im Menschen bis zu zehn Jahre lang stabil sind. Wobei das stark von den Zellen abhängt, denn proliferierende Zellen vererben Episome nicht. Das heißt, sie bleiben in den Zellen, in denen sie eingeschleust wurden. Mit dem Muskel haben wir ein dankbares Gewebe, weil der Turnover sehr gering ist und gesunde Muskelfasern viele Jahre leben. Dennoch, schlussendlich wissen wir erst, wie lange die Episomen stabil sind, wenn wir die Gentherapie am Menschen anwenden.

Der nächste Schritt sind also klinische Studien?
Rüegg: Wir möchten das gern gemeinsam mit einem Partner angehen, der Gentherapien und entsprechende Plattformen in seinem Portfolio hat, zum Beispiel Novartis oder Roche. Das Interesse ist da und wir haben jetzt begonnen, mit Firmen zu sprechen. Wir hoffen, dass wir in ein paar Jahren erste Patienten mit unserem genthera­peutischen Ansatz behandeln können.

Zu guter Letzt noch die traditionelle Frage: Warum heißt Ihre Firma, wie sie heißt?
Reinhard: SEAL hat eine zweifache Bedeutung. Einmal im wörtlichen Sinn: Den Muskelfasern fehlt eine schützende Schicht und wir dichten das extrazelluläre Gerüst mit den Linker-Proteinen ab. Außerdem steht SEAL für Simultaneous Expression of Artificial Linkers. Und das ist, was wir machen: Wir exprimieren simultan zwei künstlich zusammen­gebaute Linker.

Die Fragen stellte Sigrid März

Steckbrief SEAL Therapeutics
Gründung: 2022
Sitz: Biozentrum der Universität Basel
Mitarbeiter: Drei
Produkt: Gentherapie – bestehend aus zwei Linkern – zur Behandlung der LAMA2-Muskeldystrophie

Bild: SEAL Therapeutics (3)


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Letzte Änderungen: 06.07.2023