Editorial

Dornröschen wachgeküsst

(02.06.2023) Hin und wieder erleben seit langem entschlummerte Konzepte in den Biowissenschaften neue Aktualität. Zum Beispiel durch Erkenntnisse über Meeresschnecken.
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Waren die Biowissenschaften bis in die zweite Hälfte des letzten Jahrhunderts hinein womöglich aufregender als heute? Klar, damals konnten deren Vertreter viel weniger messen als ihre heutigen Kollegen – und das noch viel ungenauer. Dafür mussten sie aber viel mehr nachdenken, was das Wenige wohl bedeuten könnte, das sie vor sich sahen. Folglich entwickelten sie mannigfach Hypothesen und Theorien, wie bestimmte Phänomene ablaufen oder zusammenpassen könnten. Und führten dabei auch stetig neue Begriffe oder Konzepte für hypothetische Akteure oder Mechanismen ein, die man zwar (noch) nicht konkret kannte – die es im Rahmen des theoretischen Konzepts aber zwingend geben musste.

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Gene und Monster

Die Mehrzahl dieser schönen, alten Theorien, Hypothesen und Konzepte gingen mit den nächsten Erkenntnissen schnell wieder unter. Einige andere aber schafften eindrucksvoll den Sprung vom hypothetischen Konzept zur realen Größe. Mit das prominenteste Beispiel ist hier sicherlich das Konzept des „Gens“: 1909 führte der dänische Botaniker Wilhelm Johannsen den Begriff für die zuvor von Gregor Mendel postulierten Erbeinheiten ein, erst danach wurden sie sukzessive molekular definiert.

Wieder andere schlummern seit Jahrzehnten in einer Art Dornröschenschlaf – und werden immer mal wieder vorübergehend wachgeküsst. Ein Beispiel ist die Hypothese der „Hopeful Monsters“, mit der der Genetiker Richard Goldschmidt in seinem 1940 erschienenen Buch „The Material Basis of Evolution“ diejenigen größeren Sprünge in der Evolution zu erklären versuchte, die allein durch graduelle Ansammlung mikroevolutionärer Ereignisse kaum zustande gekommen sein können. Kürzlich veröffentlichte Artikel mit Titeln wie „The emergence of bacterial ‚hopeful monsters‘“ oder „Transgressive Hybrids as Hopeful Monsters“ belegen, dass Goldschmidts lange umstrittene Hypothese bis heute immer wieder neu ausgegraben wird.

Neuer Schwung durch Schnecken

Ähnliches gilt relativ aktuell für das Konzept der „Engramme“. Anfang des letzten Jahrhunderts bezeichnete der deutsche Zoologe Richard Semon damit Gedächtnisspuren, die Erlebnis­eindrücke nachfolgend im Gehirn hinterlassen würden. Dass seine Engramme jedoch ebenfalls bald in den Dornröschenschlaf entschlummerten, daran trug Semon selbst kräftige Mitschuld: Er behauptete, dass solcherart erworbene Engramme vererbbar seien.

Dennoch wurde der Begriff in der Folgezeit noch manches Mal „wachgeküsst“. Beispielsweise, wenn es um zelluläre Korrelate von Gedächtnisleistungen ging – insbesondere die Langzeitpotenzierung an Synapsen bei Lernvorgängen. Oder wenn es gelang, in Mäusen Angst-besetzte Erinnerungen durch gezielte Manipulation ganz bestimmter Gehirnzellen zu löschen.

Völlig neue Aktualität fügten den Engrammen vor fünf Jahren US-Forscher mit der Meeresschnecke Aplysia californica hinzu – vor allem hinsichtlich ihrer molekularen Basis. Durch Elektroschocks initiierten sie wiederholt eine Kontraktionsstarre in den Tieren, die sie auch noch am Folgetag lediglich auf reine Berührung hin einnahmen. Nochmals einen Tag später isolierten die Autoren die RNA aus dem Nervensystem dieser Schnecken und injizierten diese in Artgenossen, die niemals Elektroschocks erhalten hatten. Und siehe da: Berührung löste auch bei ihnen Kontraktionsstarre aus (eneuro 5(3): ENEURO.0038-18.2018). Was wiederum heißt: Mit der RNA wurden Erinnerung und Sensibilisierung mit übertragen.

RNA statt Synapsen

So „wach“ waren die Engramme sicher schon lange nicht mehr. Zumal die Ergebnisse überdies andeuten, dass zumindest in Aplysia weniger die Synapsen über neue Verbindungen die Gedächtnisspuren legen könnten als vielmehr doch die Zellkerne über die Expression bestimmter Gene. 

Aber womöglich erwacht dazu schon ein anderes Konzept in Dornröschens Garten aus dem Tiefschlaf …

Ralf Neumann

(Foto: Columbia University)

 

 

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Letzte Änderungen: 31.05.2023