Editorial

Untrüglicher Blick
auf Phänotypen

(17.05.2023) Sind Signalwege während der Zebra­bärbling-Entwicklung gestört, sehen das Experten schnell. Die KI EmbryoNet macht den Job noch besser.
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Zebrabärblinge durchlaufen die frühe Embryonal­entwicklung ganz ähnlich wie höhere Tiere und Menschen, nur eben im Zeitraffer. Die sieben Signalwege der Entwicklung von Vertebraten sind evolutionär konserviert. Welche Phänotypen durch Veränderungen der Signalwege entstehen, können aber selbst erfahrene Entwicklungs­biologen kaum erkennen.

Insbesondere bei Medikamenten-Screenings an Zebra­bärblingen will man aber möglichst genau wissen, welche Effekte die Medikamente haben, um reproduzierbare Ergebnisse zu erhalten. Mit modernen Hochdurchsatz-Screenings lassen sich hunderte Wirkstoffe an den Modell­organismen testen. Der Flaschenhals, der viele Screenings ausbremst, kommt erst danach: Jemand muss beobachten, welche phäno­typischen Veränderungen die Medikamente verursachen – und er, sie oder es muss beurteilen können, ob die Behandlung den Phänotyp positiv oder negativ beeinflusst.

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Millionenfaches Training

Mit dieser Aufgabe sind selbst erfahrene Entwicklungs­biologen überfordert, für eine künstliche Intelligenz (KI) ist sie jedoch kein Problem. Patrick Müllers Team von der Universität Konstanz entwickelte mit Kollegen vom Friedrich-Miescher-Laboratorium der Max-Planck-Gesellschaft in Tübingen das auf einem künstlichen neuronalen Netz (Convolutional Neural Network, CNN) basierende maschinelle Lernprogramm EmbryoNet. Die KI erkennt Phänotypen von Zebrafisch-Embryos, die mit spezifischen Defekten in einem der sieben Signalwege der Embryonal­entwicklung verbunden sind (siehe dazu die Github-Seite der Müller-Gruppe und www.embryonet.de).

Dazu trainierte die Gruppe EmbryoNet mit zwei Millionen Bildern, die Zebrabärbling-Embryos mit intakten Signalwegen und normaler Entwicklung oder mit einem Defekt in einem der Signalwege zeigen. Die Aufnahmen stammten von 2 bis 26 Stunden alten Embryos, die mit Signalweg-spezifischen Inhibitoren oder durch mRNA-Injektionen mit entsprechenden Signalweg-Antagonisten behandelt worden waren.

Einäugige Fische

Zunächst blockierte die Gruppe nur den Nodal-Signalweg mit dem Inhibitor SB-505124. Nodal-Defekte äußern sich unter anderem in Einäugigkeit, weil sich die Augenhöhlen nicht getrennt bilden können. EmbryoNet hatte während der Trainingsphase schon unzählige Embryos mit Nodal-Defekten „gesehen“ und konnte klar zwischen normalen und behandelten Embryos unterscheiden. Danach dehnten die Forscher und Forscherinnen das Experiment auf die sechs weiteren Signalwege aus, die die frühe Entwicklung steuern: BMP, RA, Wnt, FGF, Shh und PCP. Doch zuerst legten Experten den Zeitpunkt fest, ab dem sie nach der Behandlung einen dazugehörigen Phänotyp erkennen konnten. Mit 98 Aufnahmen, die das komplette Phänotypen-Spektrum abbildeten, das aus intakten oder gestörten Signalwegen resultierte, fand dann ein Wettstreit KI gegen Mensch statt.

Eine zufällig richtige Zuordnung war in neun Prozent der Fälle zu erwarten. Biologen, die einen Crashkurs absolviert hatten, schafften es auf eine Trefferquote von immerhin 53 Prozent. Erfahrene Entwicklungs­biologinnen lagen zu 79 Prozent richtig und konnten sich auf 84 Prozent verbessern, wenn sie nicht nur ein Bild, sondern ein Video zu sehen bekamen. EmbryoNet brillierte hier mit einer Erfolgsquote von 91 Prozent. Die KI konnte auch Embryos, deren Phänotyp bestenfalls ansatzweise ausgeprägt war, zuverlässig einem Signalweg zuordnen. Das Team vermutete, dass EmbryoNet schon subtile Phänotypen erkennen kann. Die Forscher und Forscherinnen zeigten der KI daher Aufnahmen, die zwei bis drei Stunden vor dem Zeitpunkt entstanden waren, ab dem die menschlichen Experten den Phänotyp richtig zuordnen konnten. Auch in diesem Fall lag die Trefferquote von EmbryoNet bei 90 Prozent.

Besser als Experten

Wie kann das sein? Was sieht EmbryoNet, was die Experten nicht sehen? Offenbar hat es ein Auge für feinste Merkmale, Abweichungen und Konstellationen. Um seine Entscheidungs­prozesse durchschauen zu können, visualisierte das Team die Ergebnisse mit einer sogenannten Class Activation Map (CAM). Die CAM zeigt die relevanten Bildregionen, die das CNN von EmbryoNet nutzt, um eine bestimmte Klasse von Phänotypen zu identifizieren, in einer Heat Map. Regionen, die für eine Einordnung zu einem bestimmten Signalweg sprechen, erscheinen in Rot. Blaue Areale verweisen auf Merkmale, die gegen eine bestimmte Kategorisierung sprechen.

Legt man der trainierten KI Abbildungen entsprechend behandelter Embryonen vor und fragt sie, ob es sich um einen normalen Embryo oder einen mit defektem Signalweg handelt, erscheint die Heat Map bei allen nicht-zutreffenden Kategorien blau. Die zutreffende Kategorie hingegen hat größere gelb-rötliche Flächen. Es erscheint jeweils eine Prozent-Angabe, die aussagt, wie hoch die Wahrscheinlichkeit ist, dass ein Defekt vorliegt. Die relevanten Regionen stimmen teils mit den Merkmalen überein, auf die auch ein Experte schauen würde, sie umfassen aber auch latente Merkmale. Das könnte erklären, warum EmbryoNet seine Entscheidungen schon viel früher treffen kann als ein Mensch.

Beunruhigende Statin-Beobachtung

Die Gruppe screente rund eintausend Substanzen, die von der US-amerika­nischen Food and Drug Administration (FDA) bereits zugelassen sind, im 96-Well-Format. In jedem Well befanden sich eine Handvoll Embryos im Achtzell-Stadium, die im Verlauf von 24 Stunden fotografiert wurden. Auch hier durchlief die KI zunächst eine Trainings­schleife. Anschließend musste sie zum Beispiel Bilder von Embryos auswerten, die mit Statinen (Simvastatin, Atorvastatin, Lovastatin) behandelt worden waren. Dabei bestätigten sich die bekannten Wirkungen von Atorvastatin und Lovastatin – etwa Defekte der dorso­ventralen Musterbildung, die durch Blockaden des FGF-Signalwegs ausgelöst werden. Beunruhigend ist die Beobachtung der KI, dass der Cholesterin­senker Simvastatin, der während einer Schwangerschaft als Ersatz für andere Statine verschrieben wird, die gleichen Defekte auslöste.

EmbryoNet erkennt auch in anderen Spezies Defekte in Signalwegen. Die Gruppe untersuchte mit der KI Embryos von Reiskärpfling (Mekaka oder Medaka, Oryzias latipes) und Dreistachligem Stichling (Gasterosteus aculeatus). Auch diese Spezies, die sich vor Millionen von Jahren vom Zebrabärbling getrennt haben, zeigen bei gestörtem Nodal-Signalweg einen typischen Phänotyp. Die KI spürte die fehlenden Ursegmente (Somiten) auf und konnte normale und tote Exemplare treffsicher unterscheiden.

Andrea Pitzschke

Capek, D. et al. (2023): EmbryoNet: using deep learning to link embryonic phenotypes to signaling pathways. Nat Methods, DOI: 10.1038/s41592-023-01873-4

Bild: EmbryoNet



Letzte Änderungen: 16.05.2023