Editorial

Gentherapie kurz
vor dem Ziel

(11.05.2023) Exa-cel von CRISPR Therapeutics wäre die erste reguläre Anwendung der Genschere CRISPR/Cas in der Medizin. Weitere sind längst im Rennen.
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Ja, es gibt sie – unverhoffte Steilkarrieren in der Wissenschaft. Jene von Jennifer Doudna und Emmanuelle Charpentier haben mit einem beinahe senkrechten Verlauf eindeutig Selten­heitswert. Von weitreichendem Wert ist das, was dabei entstanden ist. Nachdem die beiden Forscherinnen das Potenzial ihrer Genschere zum Editieren von Genomen in Science publik gemacht hatten (346(6213):1258096) und bald darauf Unternehmen gründeten, gab’s für beide den Chemie­nobelpreis 2020. Ungeachtet von Patent­streitigkeiten in den USA hat das Europäische Patentregister sie als alleinige Patent­inhaberinnen bestätigt. Angesichts vielversprechender klinischer Studien sind die Aussichten, dass die erste CRISPR/Cas-basierte Gentherapie bald auf den Markt kommen wird, ebenso goldig wie die Unter­nehmenswerte.

Neben einigen anderen Therapien, die Charpentiers Unternehmen CRISPR Therapeutics erfolgreich in die klinische Prüfung gebracht hat, liegt Exa-cel (alias CTX001) momentan auf der Zielgeraden. Laborjournal hat seine Schritte bis dahin mitverfolgt (von 2018 „Der nächste CRISPR-Meilenstein?“ über „Zwei Wege führen zum Ziel“ 2019 bis hin zu „Nobles Geschäft“ von 2020).

Editorial

Schmerzhafte Krisen

Gedacht ist Exa-cel für Menschen mit beta-Hämo­globino­pathien, die auf Gendefekten des HBB-Gens beruhen. Sie äußern sich entweder in einer Sichelzell­anämie, bei der sich aufgrund eines Aminosäure-Austauschs beta-Hämoglobin zu Faserstrukturen formiert und Verklumpungen provoziert. Diese verstopfen Blutgefäße und es kommt zu schmerzhaften entzündlichen Durchblutungs­störungen (Sichelzell­krisen), platzenden roten Blutkörperchen, Anämie und chronischen Organschäden.

Mutationen im HBB-Gen liegen auch der ebenfalls seltenen Erkrankung beta-Thalassämie zugrunde, bei der ungenügend oder gar kein beta-Hämoglobin gebildet und der Körper deshalb nur unzureichend mit Sauerstoff versorgt werden kann. Betroffene waren bislang auf Bluttrans­fusionen (konzentrierte Erythrozyten) angewiesen. Regelmäßig das Prozedere durchlaufen zu müssen, kostet neben eingeschränkter Freiheit und Lebensqualität auch notorisch knappe Blutkonserven. Zudem bahnt sich ein weiteres Problem an: Mit jeder empfangenen Dosis klettert der Eisenspiegel, ab mindestens 10-15 Transfusionen ist eine Eisenchelator-Therapie (als Spritze oder orales Medikament) nötig. Sonst würde sich das überschüssige Eisen in Organen und Geweben ansammeln und diese schädigen. Thalassämie-Betroffene sind Eisensammler, schon durch Resorption aus der Nahrung. Fleisch und Wurst sollten sie besser vom Essensplan streichen. Sich stattdessen von Rhabarber und anderer Oxalsäure-reicher Kost zu ernähren, könnte Eisen sanft eliminieren, doch auch den Calcium­haushalt angreifen.

Doppelt wirksame Wunderwaffe

Gegenüber regelmäßigen Blut­transfusionen bot und bietet die allogene Stammzell-Transplantation eine nachhaltig wirksame und Eisenlast-freie Alternative. Bei ihr werden körpereigene Knochen­markzellen per Chemotherapie beseitigt und mit denen eines passenden Spenders ersetzt. Die Crux ist, einen solchen Spender zu finden und Abwehr­reaktionen abzuwenden.

Mit der CRISPR/Cas9-basierten Therapie scheint nun die Wunderwaffe gefunden. Sie ist so konzipiert, Gendefekte – sowohl bei Sichelzell­anämie als auch beta-Thalassämie – auf dieselbe Weise indirekt und fortwährend zu beheben. Indirekt – denn eine direkte Reparatur der Gendefekte bei beta-Thalassämie-Patienten wäre angesichts der Vielfalt an Mutationen (260 sind bekannt, meist Punkt­mutationen) eine sehr aufwendige Aufgabe. Daher der universelle Ansatz: „Hauptsache funktionierendes Hämoglobin, egal welches“. Wenn also beta-Globin-Ketten ausscheiden, muss eben die gamma-Ausführung herhalten. Das geht, indem man die fötale Produktions­anlage, konkret die gamma-Globin-Synthese, wieder hochfährt. Hier setzt Exa-cel an.

Wenige Monate nach der Geburt legt normalerweise der Transkrip­tionsfaktor BCL11A die Produktion von fötalem Hämoglobin (HbF), welches das Ungeborene über die Plazenta mit Sauerstoff versorgt, für immer lahm. Fötales Hämoglobin besteht aus zwei alpha- und zwei gamma-Globin-Ketten (α2γ2-Struktur) und hat eine höhere Sauerstoff­affinität als das Hämoglobin von Erwachsenen (α2ß2-Struktur).

Seltener Defekt

CRISPR/Cas9 generiert nun einen Defekt im Gen für BCL11A, genauer gesagt in der Erythroid-Enhancer-Region. Editierte CD34-positive Blutstamm­zellen nehmen daraufhin die (normalerweise Föten vorbehaltene) gamma-Globin-Produktion wieder auf. Gamma-Globin kann sich mit den Alpha-Ketten zum Hämoglobin-Tetramer formieren. Bei der Exa-cel-Therapie werden Patienten Blutstamm­zellen entnommen, ex vivo genetisch editiert und – nach einer Chemotherapie zur Beseitigung verbliebener Blutstammzellen, analog zur allogenen Stammzell-Transplantation – wieder zurückgegeben.

In der EU leiden acht von 100.000 Menschen an beta-Thalassämie, was eine Zuordnung zu den „seltenen Krankheiten“ oder „orphan diseases“ bedeutet (max. 5 von 10.000). Die Einordnung bringt den insgesamt circa 41.000 Patientinnen und jenen mit anderen seltenen Krankheiten Aufmerksamkeit und Pharmafirmen Vorteile. So bietet die Europäische Arzneimittel­agentur (EMA) Unternehmen, die sich diesen „orphan diseases“ widmen, einige finanzielle und regulatorische Anreize, da es sich angesichts eines per Definition sehr geringen Absatzmarkts sonst kaum auszahlen würde, Medikamente gegen seltene Krankheiten zu entwickeln. Die EMA hat Exa-cel den Status „orphan designation“ Ende 2019 zuerkannt.

Junge Patienten

Für klinische Studien nimmt die Exa-cel-Therapie zunehmend jüngere Betroffene ins Visier. 12-35-jährige Patienten mit Sichzell­anämie oder beta-Thalassämie haben ihre Infusion schon erhalten. Es laufen Studien zu Wirksamkeit und Sicherheit. Zwei Jahre nach der Infusion zeigten die ersten beiden Teilnehmer eine planmäßige und nachhaltige Reaktion (N Engl J Med, 384(3):252-60). Phase-3-Studien nehmen derzeit Patienten im Alter von 5-11 Jahren auf, bald außerdem 2-5-Jährige. Für Patienten, die in verschiedenen klinischen Studien eine Exa-cel-Therapie bekommen haben, ist außerdem eine langfristige Beobachtung (bis 2039) vorgesehen.

Auf dem European-Hematology-Association-Kongress im letzten Jahr hat CRISPR Therapeutics Beobachtungen an 75 behandelten Patienten vorgestellt – ein Monat bis über drei Jahre nach Infusion. Das Auftreten von schweren Zwischenfällen beziehungsweise der Bedarf an Blut­transfusionen hatte sich deutlich reduziert. Mit diesem Rückenwind hat das Unternehmen nun Zulassungs­anträge für Exa-cel bei US- und Europäischer Zulassungs­behörde eingereicht (Stand April 2023). Der FDA-Entscheid wird bis Frühjahr 2024 erwartet.

Und wie steht es um die Kosten?

2019 war in den USA ein Patient mit Sichelzell­anämie erstmals mit Exa-cel behandelt worden. Damals lagen die geschätzten Behandlungs­kosten bei 0,5 bis 1,5 Mio USD (Biochemistry, 87(8):777-788). Was die Therapie tatsächlich einmal kosten soll, steht noch in den Sternen. Die Verhandlungs­position seitens CRISPR Therapeutics wäre angesichts vielversprechender Studien­ergebnisse allerdings eine gute. Einen Kostenkompromiss mit den Gesundheits­systemen wird man finden müssen, sonst wären die vielen Mühen für die Katz gewesen.

Erst 2021 zog sich Bluebird Bio trotz positiven Zulassungs­bescheids für seine lentivirale Gentherapie (Beti-cel) zur Behandlung von beta-Thalassämie aus Europa wieder zurück – man konnte sich bei der Erstattungsfrage nicht einigen. Mit 2,1 Mio USD pro Patient sind laut einer pharma­ökonomischen Analyse jedoch langfristig die Therapiekosten mit Beti-cel kosten­effektiver im Vergleich zu regelmäßigen Transfusionen (J Mark Access Health Policy, 9(1):1922028). Ähnlich erging es Janssen Biotech mit seinem Lungenkrebs-Medikament Amivantamab in Deutschland (siehe dazu „Nach der Zulassung ist vor dem Rückzug“).

Gigantischer Partner

CRISPR Therapeutics ging bereits 2015 mit Vertex Pharmaceuticals aus Boston (USA) eine strategische Partnerschaft ein. Exa-cel ist ihr erstes gemeinsames Baby. Kosten und Kuchenanteile vom Umsatz teilen sich die Unternehmen 60 (Vertex) zu 40 Prozent. Mit neun Milliarden Jahresumsatz (2022) und 4.800 Mitarbeitern ist Vertex ein echter Gigant. Das Unternehmen ist weder auf bestimmte Technologien noch Erkrankungen (u. a. Autoimmun­erkrankungen, Mukoviszidose und Krebs) ausgerichtet. Laut eigenen Aussagen sollen Einnahmen hauptsächlich in Forschung statt in Marketing fließen; Forschung und Entwicklung (F&E) stehen für 70 Prozent der Ausgaben. Der Aktienwert des Unternehmens ist über die letzten drei Jahre um 18,5 Prozent geklettert.

Anders als Vertex hat sich CRISPR Therapeutics ganz der Gentherapie verschrieben und mischt dabei unter anderem bei den CAR-T-Zell-Therapien (Krebs) und in der regenerativen Medizin (bei Diabetes Typ 1) mit. Strategische Kooperationen gibt es neben Vertex auch zu Bayer und ViaCyte. 2016 ging es an die Börse, 2021 flossen 340 Mio USD in Forschung und Entwicklung, 2022 waren es schon 461 Mio. Im letzten Jahr belief sich das Unternehmens­vermögen laut Geschäftsbericht auf knapp 2 Mrd USD.

Mit weiterhin prima Bilanzen können Pharma­unternehmen, die sich auf Gentherapien spezialisiert haben, ganz generell rechnen. Denn bei ihnen stehen laut Clinical Development Success Rates 2011-2020 Report die Chancen, die einzelnen Stufen der Medikamenten­entwicklung (klinische Phasen, Marktzulassung) erfolgreich zu absolvieren, überdurch­schnittlich hoch.

Andrea Pitzschke

Bild: Pixabay/Virginia_Druckzentrum


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Letzte Änderungen: 09.05.2023