Editorial

Wann entsteht das Darmmikrobiom?

(06.02.2023) Manche Forscher postulieren, dass es sich bereits beim ungeborenen Kind ausbildet. Eine aktuelle Veröffentlichung in Nature widerspricht.
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Die gesamte Körper­oberfläche des Menschen einschließlich Verdauungs­trakt ist von einer komplexen Mikroben­gemeinschaft besiedelt – dem Mikrobiom. Dagegen sind die inneren Organe, das Gehirn und der Blutstrom normaler­weise keimfrei. Lassen sich hier Mikroben nachweisen, ist das in der Regel ein Zeichen für eine Infektion. Das sollte eigentlich auch für die Gebärmutter, die Plazenta, das Fruchtwasser und damit natürlich auch das ungeborene Kind gelten. Zwar prägen Säuglinge bereits kurz nach der Geburt ein spezifisches Mikrobiom aus, doch laut anerkannter Lehrmeinung werden diese Bakterien erst nach der Geburt aus der Umwelt aufgenommen.

Dieser Prozess beginnt meist schon beim natürlichen Geburtsvorgang, wenn das Kind mit der Vaginalflora der Mutter in Berührung kommt. Von daher ist es nicht überraschend, dass Kinder, die über einen Kaiserschnitt geboren werden, in der ersten Zeit nach der Geburt andere Bakterien aufweisen als vaginal geborene Kinder. Da das Mikrobiom eine wichtige Rolle bei der Reifung des Immunsystems spielt, wird das veränderte Mikrobiom von Kaiserschnitt-Kindern mit der Prädisposition für verschiedene Krankheiten wie Allergien, die auf ein fehl­gesteuertes Immunsystem zurückgehen, in Verbindung gebracht.

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Eigentlich unwahrscheinlich

In den letzten Jahren publizierten allerdings verschiedene Forschungs­gruppen Daten, die sie als Beweise für ein spezifisches fötales Mikrobiom interpretierten. Zwar scheint es unwahrscheinlich, dass bereits das ungeborene Kind Bakterien ausgesetzt sein könnte: Dazu müssten diese Bakterien nicht nur innerhalb der Gebärmutter überleben, sondern auch in die Fruchtblase eindringen und/oder die Plazenta überwinden können. Letztere dient dem Schutz des Embryos vor schädlichen Substanzen einschließlich Infektions­erregern. Sollte sich tatsächlich ein fötales Mikrobiom ausbilden können, müsste es Mechanismen geben, mit denen die Plazenta gesundheits­fördernde von schädlichen Mikroben unterscheiden kann. Für viele Fragestellungen, die beispielsweise die Reifung des menschlichen Immunsystems und die Entstehung von Krankheiten betreffen, hätte die Existenz eines fötalen Mikrobioms weitreichende Folgen.

Deshalb hat nun ein inter­nationales und interdisziplinär ausgerichtetes Team unter der Leitung von Jens Walter vom University College Cork in Irland vier Studien aus den Jahren 2020/21 neu bewertet, die direkt nach einem Mikrobiom im Darm menschlicher Föten gesucht haben. Die Probennahme für derartige Studien ist schwierig; sie kann nur nach einem Schwangerschafts­abbruch oder bei einer Kaiserschnitt-Geburt erfolgen. Drei der Studien (Rackaityte et al., 2020; Mishra et al., 2021; Li et al., 2020) verwendeten Material von Föten, die nach einem Schwanger­schafts­abbruch im zweiten Trimester vaginal geboren worden waren. In der vierten Studie (Kennedy et al., 2021) nahmen die Forscher während Kaiserschnitt-Geburten rektale Abstriche bei gesunden und reif geborenen Säuglingen, um das Meconium, den ersten – noch pränatalen – Stuhlgang zu erhalten.

Vorbildliche Methoden

Zwei der Studien wollen aus den fötalen Eingeweiden lebensfähige Mikroben in geringer Dichte isoliert haben: Rackaityte et al. konnten 18 bakterielle Taxa anreichern, unter denen besonders die Gattung Lactobacillus und Vertreter der Micro­coccaceae häufig waren. Die Autoren führten verschiedene Kontrollen durch und verwendeten eine Vielzahl, sich ergänzende Methoden wie 16S-rRNA-Genanalysen, quantitative PCR, Fluoreszenz-in-situ-Hybridi­sierung, Elektronen­mikroskopie und Kultivierung, was in der aktuellen Nature-Publikation als vorbildlich bewertet wurde. Mishra et al. fanden sieben Gattungen von Bakterien, darunter ebenfalls Lactobacillus, aber auch potenziell pathogene Bakterien, etwa aus den Gattungen Staphylo­coccus und Pseudomonas. Beide Studien berichteten zusätzlich von experimentellen Anzeichen dafür, dass die aus dem Darm isolierten Bakterien tatsächlich zur Reifung des kindlichen Immunsystems beigetragen haben.

Li et al. konnten dagegen im fötalen Darm keinerlei Bakterien nachweisen, dafür aber viele mikrobielle Stoffwechsel­produkte, die vermutlich aus dem mütterlichen Darm stammen und über den Blutkreislauf in den Fötus gelangt sein könnten. Kennedy et al. führten in ihrer Publikation die bakteriellen Signale aus dem über Abstriche gewonnenen Meconium auf Verunrei­nigungen durch Hautbakterien zurück. Katherine M. Kennedy ist übrigens auch Erstautorin der Nature-Veröffentlichung, in der die 46 Autoren aus Reproduktions­biologie, Mikrobiom-Forschung und Immunologie zum Schluss kommen, dass sich aus den Ergebnissen der vier untersuchten Publikationen kein fötales Mikrobiom ableiten lässt. Stattdessen sei davon auszugehen, dass es sich bei den nachgewiesenen Bakterien um Kontami­nationen handele.

Das Problem der kleinen Biomasse

Kontaminationen können prinzipiell bei jedem Arbeitsschritt entstehen, entweder bereits bei der Proben­nahme oder später im Labor bei der Proben­analyse. Einige der gefundenen Bakterien wie Lactobacillus sind Bestandteil der mütterlichen Vaginalflora, andere Bakterien wie Micrococcus sind typische Luftkeime, die sich auch häufig in Labor-Testkits wiederfinden. Auch der Nachweis von potenziell pathogenen Bakterien wie Staphylo­coccus-Vertretern deutet eher auf eine Kontamination hin. In einem fötalen Mikrobiom sollte man stattdessen bei allen Föten unabhängig von der Proben­nahme die gleichen oder zumindest ähnliche Darm­mikroben finden.

Thomas Rattei, der die Forschungs­abteilung für computer­gestützte System­biologie am Zentrum für Mikrobiologie und Umwelt­system­wissenschaft der Universität Wien leitet und für die Nature-Publikation die Aussagen zur Datenanalyse der vier Original­publikationen evaluiert hat, kommt deshalb zum Schluss: „Fehlende Kontrollen schränken die Aussagekraft der Studien erheblich ein.“ Die Gefahr von Kontami­nationen sei besonders groß bei Proben, in denen sehr wenige Mikroben erwartet werden können, erläutert der Wiener Bioinformatiker in der Presse­mitteilung zur Publikation: „Die spezielle Problematik bei diesen Mikrobiomen besteht in den sehr kleinen Konzentrationen der anwesenden Bakterien. Datenbanken und Methoden der Bioinformatik spielen in solchen Analysen eine besondere Rolle.“

Auf Stoffwechselprodukte konzentrieren

Auch die Frage, wie das fötale Immunsystem reifen kann, ohne dass es in direkten Kontakt mit Mikroben kommt, adressiert die Nature-Publikation. Hierbei könnten Plazenta-gängige mikrobielle Stoffwechsel­produkte helfen, auf die sich die Forschung in den nächsten Jahren konzentrieren solle. „Die Frage, wann und wie sich das Mikrobiom des Menschen nach der Geburt entwickelt, hat einen bleibenden Einfluss auf das spätere Leben und die Gesundheit", so Rattei in der Presse­mitteilung. „Für ein gutes wissen­schaftliches Verständnis müssen Studien in diesem Bereich international vergleichbar durchgeführt werden, und dazu trägt diese Publikation bei.“

Larissa Tetsch

Kennedy K. M. et al. (2023): Questioning the fetal microbiome illustrates pitfalls of low-biomass microbial studies. Nature, 613(7945):639-649

Bild: Pixabay/esudroff


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Letzte Änderungen: 06.02.2023