Eine Frage der Balance
Normalerweise wird bei einer Infektion das Immunsystem durch aktivierende und inhibitorische Prozesse sehr genau kontrolliert. Zu den wichtigsten Molekülen, die die Aktivität der Abwehr in der Waage halten, gehören Fc-gamma-Rezeptoren (FcγR). Sie sitzen auf der Oberfläche von Immunzellen, binden die konstanten Fc-Regionen von Antikörpern und modulieren dadurch die Abwehrreaktion. Zu dieser Gruppe von Rezeptoren gehört FcγRIII, auch als CD16A bekannt. FcγR aktivieren die Immunantwort, wenn sie zellgebundene und lösliche Immunkomplexe (soluble immune complex, sIC) binden können. Solche löslichen Komplexe bestehen aus mehreren IgGs, die an einzelne Antigene gebunden sind. Man kann sie bei Patienten mit Autoimmun- oder Viruserkrankungen finden, beispielsweise solchen mit HIV- oder Hepatitis-C-Infektionen. Aufgrund korrelativer Befunde vermutet man außerdem, dass vorangegangene Infektionen mit dem Epstein-Barr-Virus oder Cytomegalieviren Autoimmunerkrankungen sowie das chronische Erschöpfungssyndrom auslösen können.
Um die durch diese Rezeptoren vermittelte Aktivierung von Immunzellen während einer Autoimmunerkrankung qualitativ und quantitativ bestimmen zu können, hatten Forscher und Forscherinnen der Universität Freiburg ein zellbasiertes Testsystem entwickelt (EMBO Mol Med, 14(1):e14182). „Unser Test ist ein Reporterzellsystem”, erklärt Philipp Kolb. „Er misst die Reaktion von Immunzellen über die Fc-Rezeptoren in Abhängigkeit von der Menge der Immunkomplexe in der Blutprobe. Da die Rezeptoren die Immunantwort amplifizieren, ist unser Test eintausendmal empfindlicher als kommerzielle Tests, die lediglich die Präsenz von Immunkomplexen messen. Wir stellen also nicht nur fest, ob Immunkomplexe vorhanden sind, sondern auch, ob und wie stark sie die Immunzellen tatsächlich aktivieren.”
Als die Rheumatologen der Freiburger Uniklinik berichteten, dass die bei schweren COVID-19-Fällen beobachtete Hyperinflammation der systemischen Entzündung einiger Autoimmunkrankheiten ähnelt, wurden die Virologen hellhörig. Sie begannen daraufhin, das Blut von COVID-19-Patienten systematisch nach löslichen Immunkomplexen zu durchforsten, die wie erwähnt auch bei Autoimmunkrankeiten eine zentrale Rolle in der Pathogenese spielen (Nat Commun, 13(1):5654).
Maß für die Erkrankungsschwere
Die Freiburger COVID-19-Kohorte bestand aus 27 kritisch, 14 schwer und 28 mild Erkrankten sowie 30 gesunden Blutspendern. „Im Blut der sehr kranken Personen zirkulierten viel mehr reaktive Immunkomplexe als im Blut von Gesunden oder von Patienten mit milden Symptomen”, fasst Sebastian Giese das Ergebnis der Untersuchungen zusammen, die er mit Jakob Ankerhold vornahm. Von den 35 Personen mit einer hohen Zahl an Immunkomplexen verstarb etwa die Hälfte; von den 21 Patienten, bei denen keine oder wenig sICs im Blut zirkulierten, waren es nur zehn Prozent. „Wir konnten damit zeigen, dass die Schwere der Erkrankung mit der Menge an löslichen Immunkomplexen korreliert”, so Giese. „Dieses Muster fanden wir übrigens auch bei Patienten mit systemischem Lupus.”
Interessant ist in diesem Zusammenhang, dass das Virologen-Team bei Patienten mit anderen respiratorischen Erkrankungen, beispielsweise Influenza, keine Immunkomplexe nachweisen konnte. Da fragt man sich: Warum aktiviert ausgerechnet SARS-CoV-2 die Immunantwort in einer derart schädlichen Weise? Kann man dies vielleicht über die Art der Antikörper in den Immunkomplexen erklären? „Wir fanden keine IgGs gegen SARS-CoV-2-Bestandteile in diesen Immunkomplexen”, sagt Falcone. „Tatsächlich konnten wir die Immunkomplexe teilweise schon vor dem Auftreten virusspezifischer Antikörper nachweisen. Die Infektion selbst scheint also die heftige Immunreaktion mit der Bildung von Immunkomplexen auszulösen, erst daraufhin bilden sich Antikörper gegen das Virus. Deshalb nehmen wir an, dass Autoantikörper in den Komplexen stecken. Wir wissen aber noch nicht, welche es sind.”
Erwachte Autoimmunität
Diese Annahme wird von Befunden anderer Arbeitsgruppen gestützt, die im Blut von COVID-19-Patienten freie Autoantikörper gegen verschiedene Cytokine wie etwa Platelet-Faktoren und Interferone sowie gegen Komplement-Moleküle, G-Protein-gekoppelte Rezeptoren sowie gegen Bestandteile des Zellkerns fanden. Gerade Letztere, sogenannte anti-nukleäre Antikörper (ANA) und anti-ENA (extrahierbare nukleäre Antigene), sind typisch für rheumatische Autoimmunerkrankungen. Offensichtlich gibt es einen Zusammenhang zwischen einem pathologisch aktiven Immunsystem, SARS-CoV-2 und Symptomen, die auch bei Personen mit Autoimmunerkrankungen auftreten.
Warum aber „überdreht” das Immunsystem nicht bei allen mit SARS-CoV-2 infizierten Personen, sondern nur bei einigen? Auch dazu haben die Freiburger eine Theorie. Vermutlich bildet jeder Mensch im Verlauf seines Lebens Autoantikörper. Normalerweise entfernen Fresszellen diese pathologischen Gebilde. Manchmal kann das aber zum Ausbruch einer Autoimmunerkrankung führen, die kann sich aber auch wieder zurückbilden. Das kennt man beispielsweise von Personen mit Alopecia – einer Form von Haarausfall, die von Entzündungsreaktionen ausgelöst wird. Typischerweise fallen die Haare kreisrund aus, in vielen Fällen wachsen die Haare aber wieder nach. Giese: „Wir nehmen an, dass eine SARS-CoV-2-Infektion – aus welchen Gründen auch immer – bei prädisponierten Personen diese latente, schlafende Autoimmunität über eine Barriere hebt und deren Immunsystem dann so heftig reagiert, wie wir es beobachten.”
Das Team entdeckte außerdem, dass das hyperaktive Immungeschehen auch die Antikörper gegen virale N- und S-Antigene verändert: Sie verlieren den Zucker Fucose. Diese Afucosylierung ist eine für schwere, entzündliche Reaktionen typische Signatur an Antikörpern. Kolb: „Durch die Afucosylierung wird das Immunsystem noch stärker aktiviert. Als Folge werden noch mehr Gefäße und Gewebe geschädigt, was wiederum die Entzündungsreaktion verstärkt. So entsteht ein Teufelskreis, den man medikamentös unterbrechen muss.” Dies gelingt teilweise mit Corticosteroiden – weswegen hospitalisierte COVID-19-Patienten heute standardmäßig damit behandelt werden.
Die Untersuchungen hatte das Team zu Beginn der Pandemie vorgenommen. Falcone: „Auch jetzt machen wir Analysen, wenn auch nicht systematisch. Dabei beobachten wir, dass der Anteil der Personen mit Immunkomplexen sinkt. Am Anfang der Pandemie hatten 80 Prozent der schwer Erkrankten auf der Intensivstation lösliche Immunkomplexe im Blut, inzwischen sind es nur noch halb so viele. Woher das kommt, ob es ein Resultat von bereits eingeleiteten Therapien, der neuen Varianten oder gar der Impfungen ist, wissen wir allerdings noch nicht.”
Einen sehr wichtigen Befund hinsichtlich der Impfungen will die Biologin an dieser Stelle allerdings noch hervorheben: „Bei Impflingen haben wir keine Immunkomplexe gefunden. Sie bilden sich also tatsächlich als Reaktion auf eine echte Infektion, nicht auf eine Impfung.” Warum sie das betont? Menschen mit dem Post-Vakzine-Syndrom haben ähnliche Symptome wie solche mit Long-COVID-Syndrom. „Weil eine Impfung die Vermehrung des Virus bei einer nachfolgenden Infektion bremsen kann, entstehen weniger Schäden an Zellen und Organen. Es könnte sein, dass somit eine ‚schlafende’ Autoimmunität erst gar nicht geweckt wird.” Folglich scheint insbesondere ein gut ausbalanciertes Immunsystem der Schlüssel dafür, eine COVID-19-Erkrankung gut zu überstehen.
Karin Hollricher
Bild: LJ
Dieser Artikel erschien zuerst in Laborjournal 12/2022.
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Letzte Änderungen: 10.01.2023