Rüssel im Kulturgefäß
(16.12.2020) Kultiviert man embryonale Stammzellen in Gegenwart von Matrigel entstehen Strukturen, die echten Embryos nicht nur äußerlich frappierend ähneln.
In Gewebetieren fällt die erste lebenswichtige Entscheidung während der Gastrulation, bei der sich die drei Keimblätter als Basis für unterschiedliche Gewebe und Organe bilden. Aus dem mittleren Keimblatt (Mesoderm) schnüren sich seitlich Somiten zu zwei Strängen ab, woraus später Chorda dorsalis und Neuralrohr werden.
Wer die Embryonalentwicklung in der Petrischale erforschen will, startet meist mit embryonalen Stammzellen und erhält nach einigen Tagen sogenannte Gastruloide – dreidimensionale Zellhaufen, die unter geeigneten Kulturbedingungen eine Embryo-ähnliche Selbstorganisation durchlaufen. In puncto Form kann jedoch von Embryo-ähnlich keine Rede sein, und auch sonst ist die Ähnlichkeit nicht allzu groß.
Bernhard Herrmanns Team am Max-Planck-Institut für Molekulare Genetik in Berlin hat es jedoch geschafft, die Entwicklung von Mausembryos mithilfe von Gastruloiden sehr realitätsnah abzubilden. Die Gruppe kultiviert die Gastruloiden hierzu in Gegenwart von fünfprozentigem Matrigel, das die extrazelluläre Matrix nachahmt.
Gut eingebettet
Das Matrigel dient den embryonalen Maus-Stammzellen in den ersten vier Tagen des Wachstums als Orientierungshilfe, mit der sie zwischen Innen und Außen unterscheiden können. Gleichzeitig bettet es die wachsende Struktur ein und hält sekretierte Moleküle in der näheren Umgebung fest, die in gängigen Flüssigmedien unweigerlich wegdiffundieren würden. Dank der Stimuli aus Matrigel-Molekülen und selbst gebildeten Signalstoffen entsteht eine Struktur, die mit ein bisschen Phantasie einem Embryo ähnelt und von den Autoren als „Rüssel“ bezeichnet wird.
Der Rüssel ist leicht gebogen, an seiner Spitze liegen neuromesodermale Vorläuferzellen, aus denen sich ins Rüsselinnere hin das Neuralrohr, und nach außen hin Somiten absondern. Auf diesen hohen Grad der Selbstorganisation antworten die Zellen und ihre Umgebung: An der Kontaktfläche von Matrigel und Rüssel reichert sich das Matrix-Protein Fibronektin an, wodurch Gene für Fibronektin-Bindeproteine aktiviert werden. Aus neuromesodermalen Vorläuferzellen entstehen hierdurch Neural- oder Mesodermzellen, die dem Rhythmus einer echten Embryonalentwicklung folgen.
Der Beginn einer neuen Ära
Auch die Reaktionen der Rüssel-Strukturen auf äußere Einflüsse ähneln denen realer Embryos im Bauch der Maus. So führt etwa die Zugabe des Wnt-Agonisten CHIR99021 zur Aktivierung der WNT-Signalleitung und fördert das Clustering der Somiten. Einzelzell-RNA-Sequenzierung bestätigte, dass die Transkription im Rüssel dem echten Embryo-Vorbild folgt – im zeitlichen Verlauf und in der Intensität.
Mithilfe der Matrigel-Rüssel können Entwicklungsbiologen die Embryonalentwicklung in der Maus über viele Tage hinweg direkt verfolgen, was im Tierexperiment nicht möglich ist. Herrmann spricht deshalb sogar von einer neuen Ära, die das Rüssel-Modell für die Erforschung der Embryonalentwicklung einleitet.
Andrea Pitzschke
Veenvliet J. et al. (2020): Mouse embryonic stem cells self-organize into trunk-like structures with neural tube and somites. Science, 370(6522):eaba493
Bild: Jesse Veenvliet, Adriano Bolondi/MPI für molekulare Genetik