Editorial

Komm, setz dich ans Fenster

(27.11.17) Wer erschreckt wen, wenn die Institutsfassade geputzt wird? Die Putzer draußen die Forscher drinnen – oder umgekehrt. Sowohl als auch, meint unsere (andere) TA.
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An einem kalten Wintertag im letzten Jahr liefen plötzlich Männer vor unserem Fenster hin und her.

Im Erdgeschoss wäre diese Beobachtung nicht weiter erwähnenswert, doch wir residieren im dritten Stock. Im Penthouse. Da sind Menschen vor dem Fenster doch eher selten. Erst recht ohne Schlitten und fliegende Rentiere.

Immer wenn es auf Weihnachten zugeht, veranstaltet unsere Arbeitsgruppe extra eine Kehrwoche. Falls Christkind oder Weihnachtsmann wider Erwarten doch einmal bei uns vorbeischauen, sollen sie ja einen guten Eindruck von uns bekommen und recht viele Geschenke unter den Autoklaven legen.

Damit unsere neugewonnene innere Reinheit aber auch von außen gut sichtbar sei, wurde unser Gebäude diesmal zusätzlich einer äußeren Reinigung unterzogen. Bevor die schlitten- und rentierlosen, ergo flugunfähigen Fassadenreiniger aber aktiv werden konnten, schlug allerdings erstmal die Stunde der Gerüstbauer.

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Vor lauter Schreck fiel ich fast vom Stuhl

Am frühen Morgen begannen sie ihr Werk auf der Küchenseite. Da dachte ich noch, es würde sicher mehrere Tage dauern, bis sie sich um das ganze Gebäude herum bis zu uns vorgerüstet hatten. Wie sehr ich das Tempo der Gerüstbauer unterschätzt hatte, erkannte ich bereits am Nachmittag desselben Tages, als der erste von ihnen plötzlich seinen Kopf über unser Fensterbrett steckte. Vor lauter Schreck fiel ich fast vom Stuhl. Nur meine langjährige Sitzerfahrung ließ mich die Balance halten.

Den Rest des Vormittages gewannen wir auf gewisse Art einen tieferen Einblick in das Gefühlsleben von Zootieren. Wobei die Männer draußen weder an die Scheibe klopften oder uns gar durch Handzeichen aufforderten, einen Ball auf der Nase zu balancieren; tatsächlich betrugen sie sich so diskret wie möglich. Trotzdem: Rüstet man ein Haus ein, guckt man eben auch mal auf dessen Fassade, die ja mit voller Absicht an manchen Stellen durchsichtig ist. Das nennt man dann Fenster, und hinter solchen arbeiten wir. Hin und wieder traf uns also ganz unvermeidlich der eine oder andere Blick.

Trotzdem waren wir als Ablenkung wohl nicht spannend genug, denn sie kamen mit ihrer einrüstenden Arbeit sehr zügig voran. Während vor unserem Fenster Metallstangen und Holzbretter ineinander gehakt und fixiert wurden, wurde die lose errichtete Konstruktion auf der Küchenseite befestigt. Dieser Vorgang ging mit einer Fülle seltsamer, teilweise beängstigender Geräusche einher. Neben lauten Bohrgeräuschen hörte man gelegentlich ein seltsames Scharren an den Außenwänden des Gebäudes, als kratzte jemand mit frostharten Fingern über die Fassade und begehrte Einlass. Waren das schon Weihnachtsmann oder Christkind? Wollten sie zu uns rein, um sich vor Ort von unserer inneren Reinheit überzeugen?

Waren die paar Geschenke den Radau wirklich wert?

Wer auch immer es war, zwei Stunden später – wir saßen zum Seminar in der Teeküche zusammen – wollte er es offenbar endgültig wissen und ging mit einer Art vorweihnachtlichem Riesenbohrer auf die Außenwände los. Beobachtet haben wir ihn dabei zwar nicht, aber die Geräusche ließen keinen anderen Schluss zu. In mir regte sich der Gedanke, ob ein paar Geschenke diesen ganzen Radau wirklich wert waren.

Tags darauf machte ich die Erfahrung, dass die Sache mit dem erschreckenden Anblick auch anders herum ausgezeichnet funktionierte.

Ich guckte während einer Teepause aus einem der durchsichtigen Fassadenabschnitte unserer Teeküche, da ging auf dem Outdoor-Laufsteg ein Gerüstbauer vorbei. Hatte ich mich bewegt? Oder war es ein Urinstinkt, der ihn meine Anwesenheit wahrnehmen ließ? Jedenfalls drehte er mit einem Mal den Kopf und erblickte hinter der Scheibe, keinen Meter von sich entfernt, mein Antlitz. Lagen meine Haare nicht richtig? Hatte ihm niemand gesagt, dass in dem Haus, welches er gerade einrüstet, Menschen arbeiten? Jedenfalls fuhr er gewaltig zusammen, als er mich sah, und gewiss war es nur seine langjährige Berufserfahrung, die ihn auf dem schmalen Gerüstbrett die Balance halten ließ.

Mich überkam ein schlechtes Gewissen. Der Mann hat vielleicht Familie, und was tue ich? Ich gucke aus dem Fenster, just wenn er vorbeikommt. Ich bin eben nicht daran gewöhnt, dass im dritten Stock Menschen vor dem Fenster herumlaufen. Warum sind die nicht mit dem Rentierschlitten gekommen? Bei dieser Gelegenheit hätten sie doch gleich noch ein paar Geschenke mitbringen und unter unseren Autoklaven legen können.

Maike Ruprecht



Letzte Änderungen: 20.12.2017