Editorial

Alternative Genetik

(26.5.16) Das Erbe Mendels steht einer modernen Genetik-Lehre im Weg, findet ein englischer Professor – und verbannt den Mönch mitsamt seinen Hülsenfrüchten kurzerhand aus dem Kurrikulum.
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Schlägt man ein Genetik-Lehrbuch für Anfänger auf, kann man seinen Gemüsegarten darauf verwetten, dass auf den ersten Seiten Erbsen vorkommen: grüne und gelbe, runde und schrumpelige, begleitet von diversen Kreuzungsschemata.

 Die Arbeiten von Gregor Mendel legen nun mal die Grundlage, um Vererbung zu verstehen.

Oder etwa nicht? Nun, Gregory Radick, Professor für Geschichte und Philosophie der Naturwissenschaften im englischen Leeds, meint: Die Konzepte, die die Mendelianer ab etwa 1900 etabliert hatten, stehen einer modernen Genetik-Ausbildung im Weg. Die Idee, es gebe etwa ein "Gen für Schrumpeligkeit" bei Erbsen, verführe zu einem genetischen Determinismus, den wir eigentlich in dieser Form hinter uns gelassen haben.

Experimentelle Lehre

Deshalb hat Radick an seiner Uni ein Experiment veranstaltet. Er und Kollegen lehrten Genetik-Einführungskurse in zwei parallelen Seminaren auf jeweils unterschiedliche Weise: Einmal traditionell, mit Gregor Mendel und seinen Erbsen an zentraler Stelle. Für den anderen Kurs aber hat der Historiker das Lehrbuch im buchstäblichen Sinne umgeschrieben: Nicht Mendel, sondern sein Kritiker Raphael Weldon, ein englischer Zoologe und Biometriker (1860-1906) wurde den Studis als zentrale Figur der frühen Genetik vorgestellt.

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Weldon war ein scharfer Kritiker der Mendelianer, die sich hinter William Bateson scharten. Die klare Beziehung zwischen Genotyp und Phänotyp, die für Genetiker des frühen 20. Jahrhunderts in den Fußstapfen Mendels so wichtig war, existierte für Weldon schlicht nicht – für ihn zählte immer der Kontext mit, die Umwelt, die Entwicklungsbiologie, das Verhalten.

Mehr oder weniger schrumpelig

Tatsächlich sind ja auch Mendels Erbsen bei genauem Hinsehen mal mehr, mal weniger schrumpelig, mal ein wenig gelb-grün und manchmal eher grün-gelb. Immerhin, eine klare Ein-Gen-ein-Phänotyp-Beziehung mag es bei den clever gewählten Erbsenmerkmalen des Brünner Mönchs näherungsweise geben. Bei den meisten anderen, komplexeren Merkmalen ist das Konzept einfach falsch.

Weldon hat das früh erkannt, erklärt der Wissenschaftshistoriker Radick. Er sammelte seine eigenen Erbsen und rieb seinem Kontrahenten Bateson Abbildungen mit phänotypischen Serien der Hülsenfrüchte unter die Nase, die keineswegs mendelianisch-biallelisch ausfielen.

Die Umwelt, die individuelle Entwicklung war für Weldon untrennbar mit der Genetik verbunden; eine Sicht, die sich damals nicht durchsetzte. Vielleicht einfach deshalb, weil Weldon zu früh starb (im Jahr 1906), um die weitere Debatte zu beeinflussen.

Der Clou an Radicks Umschreiben des Genetik-Lehrbuchs ist, dass Weldons Ansatz der heutigen Sicht auf Gene und Genom in gewisser Weise näher steht als der strenge Determinismus der frühen Mendelianer.

Gen für X  - war wohl nix

Aber auch heute noch ist das Gen-für-X-Dogma schwer aus den Köpfen zu bekommen. Zumindest umgangssprachlich ist schnell mal die Rede von "Genen für Diabetes", "Genen für Übergewicht", gar "Genen für Intelligenz".

Die simple Annahme, man könnte einfach die Effekte von Einzelgenen zu fixen Phänotypen aufaddieren, ergibt aber bei allen halbwegs komplexen Merkmalen wenig Sinn. Vielmehr muss man zugleich die Interaktionen vieler Gene miteinander und mit der Umwelt betrachten - und neue Ansätze der Systembiologie versuchen genau das.

Hat's funktioniert?

Radicks Experiment könnte den gewünschten Effekt gehabt haben. Im Vergleich zur konventionell-mendelianisch unterrichteten Kontrollgruppe waren die Studis aus der "Weldon-Gruppe" angeblich weniger anfällig für gen-deterministische Überinterpretationen, ergab eine Befragung vor und nach dem Kurs. (Wobei der Versuch etwas semi-wissenschaftlich war: denn die experimentelle Gruppe bestand aus Geisteswissenschaftlern mit Bio-Nebenfach, nur in der Kontrollgruppe waren Biologen. Die Fakultät hat Radick offenbar nicht erlaubt, ihren Biologen den guten alten Mendel vorzuenthalten.)

Interessantes Experiment. Aber Genetik ohne Mendel – das ist dann doch schwer vorstellbar. Denn das Schöne an Mendels Regeln ist ja gerade, dass sie auf das Wesentliche vereinfacht sind, und dadurch ein fundamentales Prinzip der Biologie sozusagen nackig dasteht.

Aha-Moment dank Mendel

Was sind die großen Aha-Momente, die man als Biologie-Anfänger erleben kann? Dazu zählt sicher, wenn man versteht, wie Mendels formale Regeln, diese strohtrockenen Kreuzungsschemata, mit den zellbiologischen Vorgängen der Meiose zusammenhängen, die man unter dem Mikroskop beobachten kann; dass Mendel eben nicht irgendeine Zahlenmagie entdeckt hatte, sondern dass – was er selbst nie erfuhr – die Aufteilung der Allele auf Nachkommen eine zelluläre Basis hat; und dass das Ganze eine physische Grundlage in der Struktur der DNA hat.

Ja, der mendelianische Gen-für-X-Determinismus ist von gestern. Aber dennoch muss man dieses Konzept erst einmal verstanden haben, bevor man sich an die kompliziertere Realität heranwagen kann. Auch in der Physik lernt man ja erst Newtonsche Mechanik, und nicht gleich Einsteins Relativitätstheorie.

Hans Zauner


Quellen:

Raddick berichtet über sein Experiment in Nature World Views

Das Thema Mendel & Weldon kommt auch in seiner Antrittsvorlesung in Leeds vor (Youtube-Video).

In der Laborjournal-Online-Reihe "Lehrbuchwissen hinterfragt" gehen wir der Frage nach, ob denn wirklich alles stimmt, was den Studenten im Studium erzählt wird. Gerne nehmen wir Themenvorschläge für diese lockere Reihe entgegen - Kontakt hier oder auch z.B. via Twitter (dort sind wir unter @lab_journal anzutreffen).

Bisher erschienen:

"Die Sache mit dem Chromatin"

"Phineas Cage und die Eisenstange"

"Schwestergene und Nächstenliebe"

"Das Geburtsdilemma"

 

 

 

 









 



Letzte Änderungen: 27.07.2016